32 Das Hessenland.
Das Großartigste auf Wilhelmshöhe sind ohne Zweifel seine Kaskaden
und das über denselben emporragende Riesenschloß. Dieser in Wahrheit gi-
gantische Bau, ein aus drei kühn über einander gestellten Tonnengewölben be-
stehendes Oktogon, erhebt sich 415 in über der Fulda auf dem Gipfel des Karls-
berges (im Volksmnnde „Winterkasten" genannt); das oberste Tonnengewölbe
wird von 102 gekuppelten 13,z in hohen Säulen getragen. Eine Wendeltreppe
führt zur Plattform desselben, welche eine 26,z in hohe Spitzsäule krönt und
von der hinwiederum ein 8,37 m hoher farnesischer Herkules („der große
Christoph") aus geschlagenem Kupfer herabschaut. Diese riesige Statue steht auf
einem würfelförmigen Piedestal, von dem aus man ins Innere gelangen kann;
in der unten 2,5 m im Durchmesser haltenden Keule des Herkules allein haben
sechs Personen Platz. Die Aussicht von oben ist entzückend: „wie eine große
Karte liegt das Hessenland mit seinen dicht gereihten Bergen vor uns", ja man
erblickt iu weiter Ferne den Brocken, den Jnselberg, die Wartburg, die Rhön und
den Vogelsberg. Am Fuße dieses Felsenpalastes beginnen die Wasserkünste.
Zuerst gelangt man nuu an das sogenannte Artischockenbassin, eine riesige
steinerne Artischocke, aus deren Blättern neun Fontänen emporsteigen; von
da kommt man in die Grotte des Flurengottes Pan, dessen fiebenröhrige
Hirtenflöte durch eine verborgene Wasserorgel weithin ertönt. Daselbst befinden
sich auch die sogenannten Vexirwafser, kleine, nach allen Richtungen hin sich
kreuzende Wasserstrahlen. Weiter unten liegt das Bassin des Enceladns, eines
unter einem Felsen ruhenden Riesen, welcher aus seinem Munde eine 18 in hohe
Fontäne springen läßt, während über ihn 25 in hoch die Wasserfluten von Klippen
herabstürzen. Nun sind wir eigentlich erst an den Hauptkaskaden, welche 282,6 m
herabsteigen und 13m breit sind. Sie strömen 6,5 m hoch über die Grotte
des Neptun in einem wunderbaren Wasserschleier herab in ein Bassin von 68 in
Durchmesser; bequeme Steintreppen, im ganzen 842 Stufen, laufen nebenher.
Das Riesenschloß wie die Kaskaden sind aus großen Felsmassen von Tuff-
stein erbaut, ein Material, dessen dunkle Farbe dem Ganzen das Aussehen des
höchsten Altertums verleiht. Der Schöpfer all dieser großartigen Anlagen war
Landgraf Karl, der hierzu keinerlei Kosten und Mühe scheute. Im Jahre
1702 begann er damit, und 1710 beliefen sich schon die Kosten aus über
200 000 Thaler, die aus allen möglichen Kassen zusammengeschossen wnrden.
Oft ließ der Landgraf über 1000 Stück Rotwild schießen und zu festen Preisen
an die Gemeinden verteilen. Im Jahre 1702 mußten täglich 30 Bauern aus
den nächsten Ortschaften von morgens 4 bis abends 8 Uhr für Gulden als
Tagelöhner arbeiten. Schon 1723 beliefen sich die Reparaturkosten der Pyra-
mide auf 2000 Thaler. Im Siebenjährigen Kriege litten die Werke infolge
von Besatzungen und Gefechten. So verteidigte sich im Oktogon und auf der
Plattform ein Häuflein Bergschotten wütend gegen die Franzosen am 22. Sep-
tember 1761. Nach dem Kriege suchte Landgraf Friedrich II. die Schäden
möglichst zu heilen. Auch war der Tuffstein sehr der Verwitterung ausgesetzt.
Sehr sehenswert sind zwischen dem Riesenschloß und der Löwenburg die
Steinh öferschen Wasserfälle, unter Kurfürst Wilhelm I. von einem rüstigen
Greife jnit ehrwürdigem Silberhaar, Namens Steinhöfer, angelegt. Über Fels-
blöcken saufen hier wilde Wasserbäche herab und stürzen sich schäumend von
Klippe zu Klippe, „bis sie, gleichsam siedend, den Fuß des Abhangs erreichen".