64 Die Wesergegenden von der Porta bis zum Tieflande.
Der schon erwähnte Altertumsforscher Esfelen jedoch nimmt dies Heiligtum
in Borgeln, im Kreise Soest, an und macht es wahrscheinlich, daß Tanfana keine
wirkliche germanische Gottheit gewesen, sondern der Name vielleicht aus Mis-
Verständnis entstanden sei und wohl nichts weiter als fanum, d. h. Tempel, bedeute,
wie sich denn dort im Volksmunde heute noch der Ausdruck „ten fanen" erhalten
habe. Auch ist es nicht einmal nötig, hier an einen wirklichen Göttertempel zu
denken; es war wohl nur ein heiliger Wald, ein eingefriedigtes Heiligtum; denn
wie Tacitus selbst an anderer Stelle sagt, hielten nnsre Vorfahren der Hoheit
ihrer Götter nicht angemessen, sie in Wände einzuschließen und sie in Bildsäuleu
darzustellen. Demgemäß muß man auch die rätselhafte Jrminsäule, von der
wir im vorigen Kapitel ausführlicher gehandelt, beurteilen. Nach Eginhards
Beschreibung fand sie Karl der Große 772 auf seinem Zuge von der Eresburg her
nach der Weser hin in der Nähe des Tansana-Heiligtnms. Obwohl wir bereits
früher von der Jrminsäule mancherlei erzählt haben, wollen wir hier doch noch
einen kleinen Roman kurz wiedergeben, den wir bei dem Paderborner Gefchicht-
schreiber Bessen lesen und der an Bellinis bekannte Oper „Norma" erinnert.
„Hildegard, die Tochter des dänischen Gouverneurs Clodoald, wurde
in ihrem siebenten Jahre geraubt und ward in Sachsen Priesterin an der Jrmin-
sänle. Ein Bruder von ihr, Namens Clodoald, hatte ein ähnliches Schicksal;
Seeräuber brachten ihn nach Afrika, wo er mit dem Sohne eines Schäfers
unter dem Namen Jschyrion answnchs. Nun suchte der Vater Clodoald mit
seinem jüngsten Sohne Hyacinth die verlorenen Kinder und kam so in den dem
Götzen Jrmin geheiligten Wald, unweit der Eresburg. Hier erlegte er einen
Eber, wofür ihn die Gottheit mit Blindheit strafte. Außerdem sollte er als
Sühne dem beleidigten Gotte dasjenige opfern, was ihm zuerst bei der Heim-
kehr begegnete. Dies war der unglückliche Hyacinth. Zwei fremde Ritter, die
von der beschlossenen Opferung des Jünglings hörten, unternahmen es, ihn zu
befreien. Diese beiden waren aber niemand anders als der junge Clodoald,
sein Bruder, und sein Freund, der Hirtensohn Fanstinns. Die Befreiung ge-
lingt nicht völlig; doch nehmen die Götzenpriester den Vorschlag der beiden
Fremden an, daß sie mit den wilden Tieren, die den Götzen bewachen, kämpfen
wollten. Sie erlegen auch im Kampfe die Löwen und Bären, für die das
unglückliche Schlachtopfer bestimmt war, werden aber von den erzürnten Prie-
stern mitsamt Hyacinth aufs neue gefesselt. Da fühlt die Hohepriesterin
Hildegard — eine zweite Iphigenie auf Tauris — Mitleid mit den Gefangenen
und beschließt ihre Befreiung. Doch sie wird gleichfalls ergriffen und soll
mit den drei Jünglingen ihren Frevel büßen. Nun naht als deus ex machina
Karl der Große nach der Zerstörung der Eresburg. Ihm vertraut sich der
alte Clodoald in seinem Kummer an, gelobt Christ zu werden und erlangt sein
Augenlicht bei der Taufe wieder. Darauf werden den Gefangenen die Bande
gelöst, und es erfolgt eine allgemeine rührende Erkennnngsseene."
Kartschanze und der Mulleröorn. Bei seinem Marsche von der
Eresburg her, der Weser zu, soll sich Karl der Große auf einer Höhe zwischen
Kleinenberg und Willebadessen gelagert haben. Man nennt dieselbe die Karl-
schanze und zeigt noch heute auf ihr Spuren von Wällen. Hier verweilte
nach Eginhards Bericht der große Kaiser drei Tage, und dabei soll sich folgendes