Object: Unterstufe: Zweiter Kursus (Teil 2, [Schülerband])

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der junge Königssohn, umgeben von vielen Jägern zu Fuß und zu Pferde, 
der hatte sich auf der Jagd in den Zauberwald verirrt. 
Die Hasen pfiffen, die andern Tiere sprangen auf und drängten sich 
um das Reh, um es zu beschützen, das aber floh in raschem Laufe davon. 
Doch der Königssohn hatte es schon erblickt und rief: „Wer mir das schöne 
Tier tötet, der soll sterben; wer's aber fängt und mir lebend bringt, soll 
ein Jägerhorn aus lauterm Golde bekommen." Und sogleich jagte der 
ganze Troß, den jungen König an der Spitze, dem fliehenden Tiere nach. 
Das floh wie ein Pfeil aus dem Walde hinaus, den Felsen hinauf, 
dort stürmte es in die Zelle, wo der Greis noch betete, und versteckte sich 
hinter seinem Kleide. Bald war auch der Königssohn oben, und da er 
wohl sah, wo sich das Tier versteckt, rief er dem Einsiedler zu, er solle 
ihm das Tier herausgeben. Der aber beschützte es mit seinen Armen und 
sprach: „Wenn ich das täte, so wäre es eine Sünde. Wer auf meiner 
Schwelle Schutz suchet, der findet ihn auch!" — „So mußt du sterben!" 
rief der Jüngling und erhob seinen Speer; doch in dem Greise erwachte 
die alte Kampflust. Im Nu riß er sein Schwert von der Wand und sprach: 
„So laß uns darum kämpfen!" 
Der Kampf begann. Mit furchtbarer Kraft hieben beide aufeinander 
los; aber zuletzt ermüdete die Kraft des Greises. Der Jüngling schlug 
ihm das Schwert aus der Hand und zückte das seinige, um ihn zu töten. 
Doch das Reh sah die Gefahr seines Beschützers, sprang zwischen beide 
und ward statt des Alten vom Schwert des Königssohnes durchbohrt. Da 
lag das zarte Tierlein im grünen Gras, und das Blut strömte mit Macht 
aus der offenen Wunde; aber statt an den Boden zu fließen, verbreitete 
das rote Blut sich über den ganzen Leib des Tieres und umhüllte es 
wie mit einem prächtigen Purpurmantel. Zugleich wuchs sein Geweih zu 
einem goldenen Krönlein zusammen, und endlich lag statt des Rehes ein 
wunderliebliches Königstöchterlein im Grase, das hatte die Augen ge¬ 
schlossen, als schlummere es. 
Als der Königssohn das schöne Frauenbild sah, faßte er eine innige 
Liebe zu ihm. Er sank auf seine Knie, beugte sich über die Jungfrau und 
sprach: „Wach auf, wach auf, du Königstöchterlein, du sollst meine Königin 
sein!" und damit küßte er sie auf ihren roten Mund. 
In demselben Augenblick erhob sich ein Tosen in der Lust; die Blitze 
zuckten, und die Donner rollten; es brauste der Sturm, und die Erde erbebte. 
Die Königstochter schlug die Augen auf, erhob sich vom Boden und sprach 
zu dem Königssohn: „Die Zeit ist nun erfüllt, der Zauber gelöst! Mich 
und mein Hofgesinde hielt ein böser Zauberer hundert Jahre lang ver¬ 
wandelt. — Willst du mich zu deiner Frau, so bin ich und alles, was 
mein ist, dein eigen." 
Und als sie das gesprochen, brach die Sonne wieder aus den Wolken, 
und aus dem Walde unten stieg ein prächtiges Schloß empor mit hohen
	        
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