168 Die Umgebungen der Hauptstadt.
Der empfindsame Reisende, welcher von der seiner Zeit so eigenen Ge-
fühlsschwelgerei angekränkelt erscheint, bricht hierbei in folgende Apostrophe
aus: „Ich glaube, der zärtliche Liebhaber, der diese Verse ohne Zweifel in
der Absicht hinlegte, damit seine Geliebte sie finden möchte, hat Recht, ich
stellte dabei meine besonderen Betrachtungen über die Liebe und ihre Wir-
kuugen au. Unter dem Grübeln und Gehen kam ich nahe an den Tarone'schen
Garten an der entgegengesetzten Seite des Thiergartens, an der Thiergarten-
straße. Es mochte etwa zehn Uhr Vormittags sein. Eine Menge von
Kutschern, geschäftigen Bedienten, ein Chor Musikanten, welches sich einfand,
ließen mich eine Fete muthmaßen. Ich ging einige Gänge zurück und be-
obachtete Alles. Damit ich's kurz mache, einige, vermuthlich Adelige, hielten
ein Dejeuner. Nachher hörte ich von dem Markör des Tarone'schen Kaffee-
Hauses, daß auf diesem Dejeuner alles Mögliche gewesen wäre, was Nah-
ruug geben könnte. Chokolade, Thee, Kaffee, Limonade uud Orgeade, Ratavia
und Persiko, Butterbrot, Schinken und Braunschweiger Wurst, Dauziger Brauut-
wein und kalt Rindfleisch u. s. f. Bis gegen ein Uhr währte das Essen und
das Tanzen bei dem kleinen Bassin, welches vor diesem Garten liegt. Tie
Damen waren alle en negligee nach dem besten und feinsten Geschmack ajustirt
und sahen zum Theil wie die Grazien aus. Fast möchte ich sagen:
(sie- tanzten, nymphenhaft geschürzet,
Auf kurzem Gras —
denn nachlässig, leicht und für Auge und Herz interessant waren sie angezogen.
Sie flogen mehr als sie tanzten, uud ihr ganzer Körper war ein solches per-
petuum mobile, als ich noch nicht gesehen habe. Wie gesagt, gegeu ein Uhr
machten sie Stillstand, sprangen in die Wagen und eilten ohne Zweifel zur
Toilette, um sich zur Tafel, welche um zwei Uhr angeht, vorzubereiten."
So lebte und liebte, schwelgte uud „schwögte" man vor hundert Jahren
im Berliner Thiergarten.
Die Zelte erfuhren aber anch die Unbeständigkeit des Geschmackes und
der Laune. Im 19. Jahrhundert verfielen sie immer mehr zn gewöhnlichen
Bierkneipen, um noch einmal in bedentuugs- und verhängnisvoller Weise die
allgemeine Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. — Viele Tausende von Personen,
meist Männer, darunter viele Handwerker, die „blauen Montag" feierten, hatten
sich vor den Zelten versammelt. Vom Himmel blaute der erste schöne Früh-
lingstag. Aber dieser war es nicht, welcher die Massen hier zusammenführte.
Nachdem die augenscheinlich erregten Männer längere Zeit in einzelnen Gruppen
sich unter lebhaftem Gestikuliren unterredet, drängten sie sich um die Orchester-
bühne, von der diesmal nicht die lustigen Weisen Strauß'fcher Walzer, sondern
politische Reden herabschallten. Proteste wurden erhoben, Beschlüsse gefaßt und
Adressen an den König entworfen. „Wir wollen Freiheit!" rief der eine
Volksredner, „vollständige Freiheit, ohne Exeesse", ein Anderer verlangte eine
deutsche Flotte, was Heiterkeit erregte. Der Polizeipräsident von Minntoli trat
heran und suchte die aufbrausenden Gemüther zu beschwichtigen, was ihm so
gut gelang, daß ihm ein Hoch ausgebracht wurde und die Menge in dicht ge-
drängten Kolonnen durch deu Thiergarten und die Linden nach dem Schloß-
platz zog. Dort an der Ecke machten jedoch plötzlich die Gardekürassiere einen
Angriff, sprengten die Volkshaufen und verwundeten und tödteten hierbei mehrere