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Produkte des Bodens, wie die Produkte des Geistes herüber und hin-
über wandern, auf daß wir uns auch hier noch trotz aller Trennung
als Familienglieder eines Hauses kennen lernen. Selbst das Hochge-
birge Deutschlands, welches die südlichste Rückwand unseres Wohnhauses
bildet, die Alpenkette nämlich, gehört zu den zugänglichsten der Welt. Zwar
zeigen sich die runden nnd leicht zu ersteigenden Koppen und Köpfe des
Mittelgebirges nur noch in den Vorbergen, denn in Hörnern und Nadeln,
in Zähnen und Graten steigt zuletzt der Kamm empor, so hoch, daß er in
den Himmel hineingewachsen scheint, gehüllt in unwandelbare Schnee-
mäntel, welche die Wolken wie nebelige Geisterscharen umfliegen; aber
dennoch schlängeln fahrbare Alpenstraßen durch die Felsenpässe, zwar vor-
sichtig, aber bequem, und durch Schluchten schleichen und schlüpfen viele
Gems- und Fußwege über Teufelsbrücken und Hexenstege. Das Alpen-
gebirge, an dessen Südseite das schmale Ausgangsthor unseres Vaterhauses
liegt, bietet den dritten charakteristischen Ausbau desselben. Hier entfaltet
die Natur noch einmal die ganze Fülle ihrer zauberischen Reize, wie ihrer
schaurigen Schrecknisse. Während die sansten Ausläufer dieses Gebirges
die entzückendsten Landschaften mit wonnigen Thälern und reizenden Seeen
einschließen, hängen hoch über diesen die wilden Zacken des toten Gesteins,
zerrissen von düstern Felswänden, ausgehöhlt von öden Kesseln, die nicht
selten das Leichengewand der Gletscher deckt. Während unten in den ge-
linden und ruhigen Luftschichten der Thäler die abprallenden Sonnen-
strahlen Feigen reifen und Trauben kochen, verschwindet auf den rauhen
Spitzen aller Baumwuchs, und der starre Boden ist nur noch mit Moos
und Flechten überzogen, so daß die Natur an den Gehängen der Alpen
noch einmal den ganzen Pflanzenwuchs Deutschlands, von der füßen
Kastanie bis zum Wacholder und Heidekraut, das an der Ostseeküste den
beweglichen Dünensand mit seinem Wurzelgeflecht festhält, hinmalt, ja bis
über die Ostsee hinaus selbst die Moos- und Flechtenländer der kalten
Zone zeigt. Dieselbe Mannigfaltigkeit wie die Pflanzenwelt bietet auch
das Tierreich in dieser Gegend, wo kein Berg, kein Thal, kein Flecken
Landes dem andern gleicht, wo es in ganz naher Nachbarschaft verschiedene
Längen der Jahreszeiten giebt und man sogar Schluchten ftndet, die von
der Sonne seltener beschienen werden, als der Nordpol. Auch der Mensch
erscheint in den buntesten Gestalten und Formen, als Nomade und Jäger,
als Ackerbauer und Winzer, als Fabrikant und Fischer, hier schön und
schlank wie die Edeltanne, dort verkrüppelt wie die Mißgestalt des
Krummholzes, hier iu üppiger Fülle lebend, dort unter Mühsal und
Not iu Winkeln und Verstecken seine Nahrung aufsuchend.
So sind in Deutschlands Ausbau eine Menge von Naturformen zu
einem Ganzen verbunden, wie in keinem andern Lande Europas. Die
Plateaubildung Spaniens, die überraschende Mannigfaltigkeit Griechen-
lands, der eigentümliche Wechsel zwischen Bergland und Ebene der
britischen Inseln, die Hochgebirgssorm Skandinaviens, die Tiefebene
Rußlands — alle diese Bodeusormen hat Deutschland in vollendeter