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Brot bald in der Tiefe des Wassers, bald an den grünen Galerieen
der nahen Gebirge suchen? Die Antwort würde immer lauten: in den
Alpen, in den Alpen allein! O wie schön sind Europas Alpen?
5. Tie Gcmsjagd."
Die Gemsjagd! — welchen eigenen Zauber das Wort allein schon
auf mich ausübt! Kaum nehme ich die Feder in die Hand, und lasse
die Erinnerung zurückschweifen zu jenem wilden, fröhlichen Leben, so
tauchen auch schon die grimmen Berge in all' ihrer Pracht und Herr-
lichkeit empor. Wieder sehe ich jene schroffen Kuppen und Joche, jene
Schluchten und Wände hoch über mir emporragen — unter mir in
schwindelnder Tiefe liegen — wieder höre ich in weiter Ferne das
Donnern der Lawinen, das Prasseln der ausgescheuchten Gemsen auf
dem lockeren Geröll der Reißen, und wie mit einem jähen Schlag steht
plötzlich jene wunderbare Welt in ihrer ganzen Pracht nnd Größe be¬
wältigend um mich her.
Das Herz fängt mir an zu schlagen, als ob ich noch einmal da
draußen, halb in einen Laatschenbnsch hineingeklemmt, auf überhängen-
der, vorspringender Felsenspitze klebte, und kaum atmend mit der ge-
spannten Büchse in der Hand, in ängstlicher, fast peinlicher Luft, die
Sinne zum Zerspringen angestrafft, des flüchtigen Wildes harrte —
und alles wird lebendig um mich her:
In den gelblich schimmernden Lärchentannen, die tief unter mir ihre
halbtrockenen Spitzen heraufstrecken, rauscht und murmelt der Wind,
schüttelt und schaukelt die elastischen zähen Zweige der Krummholzkiefer
und fegt den Staub aus den trockenen Ritzen und Spalten der weiten
Klamm, die sich neben mir, mit ihren gähnenden Schluchten und Spalten,
tief in den Berg hineingefressen hat. Dort drüben balgt sich ein Schwärm
schreiender munterer Alpendohlen, und still darüber hin, in stummer
gewaltiger Majestät, zieht ein einzelner Jochgeier seine luftige Bahn.
O komm! — fort, fort aus dem flachen Land. — Dort hinten
ragen schon die starren, lichtübergossenen Joche aus dem dust'gen Nebel
auf, der wie ein Schleier auf den Bergen liegt; neben uns rauscht und
funkelt die blaue Isar, und trägt den flüssigen, wie mit leuchtendem
Silber übergosseuen Bergkrystall zum Niedern Lande binab. Die kleinen
zierlichen reinlichen Häuser mit ihren steinbeschwerten Dächern, hölzernen
Verandas, bunten Heiligenbildern und Außenwerken von gespaltenen
Winterscheiten werden häufiger, freundlich grüßende Gesichter mit spitzen,
federgeschmückten Hüten darüber, das unvermeidliche „Regendach" unter
dem Arme, begegnen uns. und jetzt rasselt der Wagen über das Pflaster
des Bergstädtchens Tölz die lange Straße hinab, die wie eine Bilder-
galerie an beiden Seiten alle möglichen „Schildereien" aus der biblischen
Geschichte nnd christlichen Sage zeigt. — Den Hang nieder geht's durch
eiue plankenbelegte mit blauen Hemmschuhspuren gestreise Gasse über
* Fr. Gerstäcker.