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strömen; dieses aber, sowie die Betrachtung, daß der Fuß des Ge-
steins stets unterwaschen wird, möchte Wohl selbst einen beherzten
Mann von dem Versuche eines Eindringens in diese gräßliche Schlucht
abhalten, die noch dadurch an Schauer gewinnen muß, daß dem Be-
obachter nicht eine lebende Kreatur begegnet. Trotz dem Schrecken,
welchen einem jeden der Gedanke eines Sturzes durch diesen ungeheuren
Fall erwecken muß, versuchte es vor mehreren Jahren ein gewisser
Samuel Patsch, von einem neben der Ziegeninsel über dem Fels-
rand des großen Falles angebrachten Gerüste in den Schlund des
Niagara hinabzuspringen, was ihm glücklich gelang. Er hatte denselben
Sprung zuvor einen jungen Bären machen lassen, dessen glückliches
Wiederauftauchen ihm den Mut gab, ein gleiches Wagnis zu versuchen.
Dadurch übermütig gemacht, unternahm er den Sprung zum zweiten-
mal, wurde aber nie wiedergesehen. Dasselbe Schicksal hatte der Welt-
berühmte Schwimmer Kapitän Webb,-der im Juli 1883 die
Stromschnellen des Niagara passierte. Als er aber den Wirbel
erreichte, sank er unter, kam jedoch noch einmal an die Oberfläche und
nahete sich endlich dem unbeschreiblich gewaltigen, schrecklichen Trichter.
Hier wurde Webb in den schäumenden Abgrund hinabgerissen und ver-
schwand vor den Augen der Zuschauer.
Der Laus des Niagara von der Ausmündung des Erie-Seees bis
zu seiner Einmündung in den Ontario beträgt etwa ö1/^ preuß. Meilen.
Er ist bei seinem Austritte aus dem Erie 1243 Mtter breit und hat
daselbst 8 Meter mittlere Tiefe. Während seines kurzen Laufes durch-
bricht er 62 bis 94 Meter hohe, schroffe Felsenwände, und wird nicht
selten auf die geringe Breite von 86 Schritt eingeengt, wodurch seine
Tiefe bis gegen 60 Meter gesteigert wird. Wenige Meilen unterhalb
seines Falles tritt der Strom aus den Bergen hervor und breitet sich
mehr als zehnfach aus, worauf er dann mit ruhigen Wellen und sanften
Krümmungen fortfließt, bis er den Ontario-See erreicht. Auch jene
Strecke, welche er nach seinem Falle zwischen den Felsen zurücklegt, ist
nicht ohne staunengebietende Naturerscheinungen, davon die beiden wich-
tigsten Szenen das Teufelsloch und der Wirbel sind. Bei dem
Teufelsloch ragt ein Felsen hoch aus dem Wasser empor, von dessen
kahler Platte man eine ganz freie Aussicht auf den Niagarastrom hat,
dessen schäumende Wogen sich unaufhörlich an dem Felsen brechen.
Ebenso malerisch ist der sogenannte Wirbel, der dadurch entsteht,
daß der Strom bei einer starken Krümmung in sein linkes Ufer ein
großes Bassin (Becken) ausgewühlt hat. Hier ist ein immerwährender
Kamps der Wogen mit allem, was sich ihnen entgegenstellt, sichtbar;
nicht nur, daß sich die Wasser an den Felsen brechen und hoch auf-
schäumen, sondern hergeschwemmtes Treibholz und ganze Bäume wer-
den im Kreise herumgetrieben und durch die Gewalt der brausenden
Strömung zersplittert.