Full text: Lesebuch der Erdkunde

Volk und Staat. 309 
ganze Leichtfertigkeit und Reizbarkeit des französischen Blutes, eine Beimischung von 
deutschem Phlegma hat sie fester und beharrlicher gemacht. Die Flamänder da- 
gegen haben die Kälte und starre Zähigkeit des holländischen Wesens durch etwas 
romanische Wärme und Leichtigkeit gemildert, und sind dadurch lebhafter geworden. 
Die Belgier sind ein streng katholisches Volk, die Kirchen sehr reich; die Geist- 
lichkeit unter dem Erzbischos von Mecheln zahlreich und angesehen; noch bestehen und 
mehren sich allerhand Klöster, 1700 im Jahr 1880 mit 22 549 Religiösen. Pro- 
testanten zählt man nur 15000, Juden 3000. Die Geistlichkeit aller Kirchen wird 
von den Gemeinden gewählt, doch vom Staate besoldet. Neuerer Zeit wird für den 
Volksunterricht mehr gethan als vordem. Es besteht völlige Freiheit des Unter- 
richts: hat der Staat 2 Universitäten, Gent und Lüttich, so besitzt auch die Geistlich¬ 
keit eine (in Löwen), der die liberale Partei (1834) eine in Brüssel gegenüberstellte. 
Geschichtliches. Seit 887 als Teil der Niederlande zum deutschen Reich gehörig, 
hatte Belgien Herzoge in Brabant, Grafen in Flandern, deren Gebiete seit 1369 den 
Herzogen von Burgund zufielen. Der deutsche Kaiser Maximilian I. erheiratete diese Nieder- 
lande zur Zeit ihrer schönsten Blüte, da sie freie und reiche Städte voll Handel und Ge- 
werbe, Stätten hoher Bildung geschaffen hatten, wie kein andres Volk. 
Noch jetzt wandelt man in Städten, wie Gent, Brügge ?e. mit Bewunderung uuter 
den herrlichen Bauwerken jener Zeit. Nicht allein die prachtvollen Kirchen, sondern ebenso 
prachtvolle Rathäuser und andere städtische Gebäude, mit den herrlichsten Gemälden und 
Bildwerken in Holz und Stein ausgeschmückt, zeugen von dem Wohlstande und dem 
Glänze, der damals in den Niederlanden herrschte, und vorzüglich in Flandern.^) Kein 
Fürst konnte sich rühmen, über reichere Bürger zu regieren. 
Kaiser Karl V., ein wahrer Belgier, hinterließ 1555 das Land seinem Sohne König 
Philipp II. von Spanien, durch den es unsägliches Elend zu leiden bekam. Schon'hatten 
sich die südlichen Niederlande auch an die Republik der nördlichen angeschlossen; doch ge- 
lang es den Spaniern sie wieder zu unterwerfen, worauf der protestantische Teil des 
Volkes meist nach Holland floh. Nachdem die spanisch-französischen Kriege in seinen 
Ebenen ausgekämpft waren, kam das Land 1714 wieder an Österreich, welches seinen Be- 
dürfnissen kaum gerecht wurde, und dasselbe in der Revolution schnell an Frankreich verlor. 
Bei der Neuherstellung der europäischen Staaten im Jahr 1815 wurde es mit Hol- 
land vereinigt; allein es war eine unnatürliche Verbindung. Holländer und Belgier 
find einander in Charakter, Religion, Denk- und Lebensweise zu sehr entgegengesetzt. 
Die Belgier, Katholiken wie Liberale, fühlten sich gedrückt und unglücklich, und vereinigten 
sich zu einem Aufstand, der 1830 die Trennung von Holland bewirkte. Sie wählten den 
Prinzen vou Sachsen-Koburg zu ihrem Könige, und so bildet nun Belgien ein eigenes 
Königreich, dem die Großmächte, wie der Schweiz, ewige Neutralität zugesichert haben. 
Lange erfreute sich die Belgische Nation, unter der volkstümlichen, milden, und das Wohl 
des Landes und Volkes eifrig pflegenden Regierung ihres weisen Königs, eines steigenden 
Wohlstandes und fortwährenden Aufschwungs, der Fabrikation sowohl als der Landwirt- 
schaft. Ihm folgte 1865 sein Sohn Leopold II. auf dem Throne. 
§ 293. Der Boden und seine Produkte. Während die nordwestliche 
Hälfte, besonders das Gebiet der Schelde, dem Tieflande der Nordsee angehört und 
zwischen Gent und Antwerpen (im Waesland) den „Lustgarten von Flandern" ent- 
*) Brügge, die Hauptstadt von Westflandern, lag dazumal an einer Meeresbucht, die seitdem versandet 
ist, und war vom 13. bis 15. Jahrhundert Haupthandelsplatz Europas, und der große Warenmarkt der Nationen, 
der nordischen Produkte für den Süden, und aller südlichen und morgenländischen Waren für den Norden; 
Kaufleute von 1- Königreichen hatten hier Faktoreien, die Hansa ihren Hauptstapel, die Grafen von Flandern ihren 
Hof; später stiftete hier im Prinzenhof Herzog Philipp von Burgund — zur Anerkennung der Wollwaren- 
fabrikation und des dadurch erzeugten Reichtums — den Orden des goldenen Vließes. Gent war die volkreichste 
Stadt Europas, und führte mit seinen Webern Kriege gegen England u. s. f., zu denen es 50 000 Krieger stellte. 
Nach Brügge wurde Antwerpen erste Handelsstadt Nnrdeuropas; da liefen oft an einem Tage gegen 500 
Schiffe im Oasen ein; Sammt-, Atlas- und Damastfabriken, Gold- und Seidestickereien waren im höchsten Flor, 
und über 500 Mill. fl. wurden jährlich in Umlauf gesetzt. Zugleich waren diese Städte Sitze der höchsten Kunst- 
bildung: die herrlichste Malerschule Deutschlands (Joh. van Eyck ?c.) blühte in Brügge.
	        
Waiting...

Note to user

Dear user,

In response to current developments in the web technology used by the Goobi viewer, the software no longer supports your browser.

Please use one of the following browsers to display this page correctly.

Thank you.