Full text: Lektüre zur Erdkunde

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Was das Auge mit einem Blicke aus der Entfernung überschaut, 
ist räumlich weit voneinander geschieden; die einzelnen Zonen, in welche 
sich das Gebirge gliedert, sind derart gestellt, daß die folgende immer 
die vorhergehende überragt. Dieser streng regelmäßige Aufbau verleiht 
den Alpen im Süden des Deutschen Reiches eine ungemein einfache, 
klare Anordnung, aber indem das Gebirge sich mit seinen größten 
Höhen am weitesten von seinem Vorlande entfernt, und indem das 
letztere sich höher erhebt als irgendwo sonst in den Nachbargebieten, 
während die Gipfel den benachbarten der Schweiz an Höhe nachstehen, 
macht die Kette im Süden des Deutschen Reiches nicht jenen überaus 
großartigen Eindruck wie die Alpen der Schweiz. Aber die deutschen 
Alpen sehen geschlossener aus als ihre Schweizer Nachbarn; unmittel- 
bar treten sie an ihr Vorland, so daß sie hier einen scharf ausgesprochenen 
Fuß besitzen; es fehlt ihnen ferner die Gliederung durch große, tief 
einschneidende Täler, welche dem Blick ermöglichen, bis in das Herz 
der Schweizer Alpen einzudringen. Nur an drei Stellen wird die ge- 
samte Erhebung der deutschen Kalkalpen von Tälern durchbrochen, welche 
von den innersten Ketten des Gebirges kommen. Zwei derselben mar- 
kieren gerade ihr Ende, nämlich das Rhein- und Salzachtal, und nur 
eines nimmt genau ihre Mitte ein. Es ist dies jene Pforte, in welcher 
der Inn die Alpen verläßt. Deutlich spricht sich in diesen Verhältnissen 
die Tatsache aus, daß die Längsgliederung vor der Quergliederung 
überwiegt. 
In der Tat ist der Aufbau der einzelnen Gebirgsteile derart, daß 
einer parallel dem andern gelagert ist. Ein großer Zug von Längs- 
tälern trennt die zentralen Alpen von den Kalkalpen, und in diesen 
tritt wiederum die parallele Anordnung der einzelnen Glieder hervor, 
wenngleich auch hier neben den echten Quertälern auch Talzüge das 
ganze Gebirge queren. Zerstückelt und in einzelne Gruppen zerlegt ist 
nur die äußerste Zone des Gebirges, die der Flyschberge. Als geschlossene 
Mauer liegen die deutschen Alpen vor ihrem Vorlande, während sich die 
Schweizer Alpen durch zahlreiche große Täler gegen dasselbe öffnen. 
Dieser Gegensatz ist maßgebend für die historische Entwicklung 
geworden. Während die Schweizer Alpen mit ihrem Vorlande eine 
staatliche Gemeinschaft bilden, sind sowohl die deutschen Alpen als 
Tirol stets von ihrem bayrisch-schwäbischen Vorlande getrennt gewesen. 
Jahrhunderte haben an der Ausbildung einer politischen Grenze ge- 
arbeitet, welche schließlich die südliche des Deutschen Reiches geworden 
ist, und die in anthropogeographisch sehr lehrreicher Weise hin und 
her springt, sich aber nicht im geringsten um geographische Provinzen 
kümmert. Es sei daher gestattet, hier jenen ganzen Komplex des Ge- 
birges in die Betrachtung zu ziehen, welchem das deutsche Alpenland 
angehört, das sind die nördlichen oder deutschen Kalkalpen 
zwischen Rhein und Salzach. Dieselben bilden ein geschlossenes Ganze
	        
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