Full text: [Teil 2 = 3. Schulj] (Teil 2 = 3. Schulj)

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Eltern um den Hals und fragten sie und trösteten sie und erzählten 
ihnen, was während der Nacht geschehen war. Die Eltern aber sagten, 
sie hätten das alles nur geträumt, es gäbe ja gar keine Wichtelmänner. 
Da schwiegen die Kinder, blinzelten aber einander heimlich zu, als 
wollten sie sagen: Das wissen wir besser; denn wir waren bei ihnen 
in dem goldnen Schlosse. 
8. Als die Geschwister später wieder einmal in dem Walde dürres 
Holz zusammenlasen, sagte der Bruder: „Weißt du noch, wie ich einen 
roten Mantel um hatte, eine Krone trug, auf einem goldnen Throne 
saß und Wichtel der Erste hieß?“ Da nickte die Schwester und ant¬ 
wortete: „Das werde ich doch noch wissen; ich saß ja neben dir 
als Prinzessin auf dem silbernen Throne und hatte ein blaues, mit 
silbernen Sternen übersätes Kleid an.“ — „Wenn wir keine Träne auf 
den Boden geweint hätten, so wäre ich noch heute ein König, und du 
wärst noch immer eine Prinzessin. Aber es reut mich gar nicht,“ 
sagte der Bruder und betrachtete lächelnd seine alte geflickten Jacke. — 
„Mich reut's noch viel weniger,“ entgegnete die Schwester, „bei Vater 
und Mutter ist’s tausendmal schöner als bei den Wichtelmännern im 
goldnen Schlosse.“ — „Das meine ich auch,“ sagte der Bruder, „aber 
lieb ist mir’s doch, daß ich einmal König gewesen bin.“ 
Julius Sturm. 
46. Der Anne und der Reiche. 
1. Vor alten Zeiten, als der liebe Gott noch selber auf Erden 
unter den Menschen wandelte, trug es sich zu, daß er eines Abends 
müde war und ihn die Nacht überfiel, ehe er zu einer Herberge 
kommen konnte. Nun standen auf dem Wege vor ihm zwei Häuser 
einander gegenüber, das eine groß und schön, das andere klein und 
ärmlich anzusehen, und gehörte das große einem reichen, das kleine 
einem armen Manne, Da dachte unser Herrgott: „Dem Reichen werde 
ich nicht beschwerlich fallen, bei ihm will ich anklopfen.“ Der Reiche, 
als er an seine Tür klopfen hörte, machte das Fenster auf und fragte 
den Fremdling, was er suchte. Der Herr antwortete: „Ich bitte nur 
um ein Nachtlager.“ Der Reiche guckte den Wandersmann an vom 
Haupte bis zu den Füßen, und weil der liebe Gott schlichte Kleider 
trug und nicht aussah wie einer, der viel Geld in der Tasche hat, 
schüttelte er mit dem Kopfe und sprach: „Ich kann Euch nicht auf¬ 
nehmen; meine Kammern liegen voll Kräuter und Samen, und sollte 
ich einen jeden beherbergen, der an meine Tür klopfte, so könnte 
ich selber den Bettelstab in die Hand nehmen. Sucht anderswo ein Unter¬ 
kommen!“ Schlug damit sein Fenster zu und ließ den lieben Gott stehen.
	        
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