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§ 96. Franzosentum und Deutschtum.
licher Schärfe Ephraim L es sing hervor und bewährte dabei seine Über-
legenheit nicht bloß als geistreicher Kritiker, sondern auch als schöpferischer
Schriftsteller und Dichter. Auf den von ihm eingeschlagenen Bahnen
schritt Herder weiter, der vor allem das richtige Verständnis für echte
Volksdichtung zu vermitteln suchte. So faßte das Schriftentnm wieder
Wurzeln im heimischen Boden und eilte in den Zeiten eines Goethe
und Schiller der sonstigen, namentlich der politischen Wiedererhebung
Deutschlands weit voran. Fast gleichen Schritt mit der Dichtung hielt der
Aufschwung der deutschen Tonkunst. Auch in den Wissenschaften
regte sich neben der seichten Aufklärung ein Trieb zu gründlicher Forschung,
zuerst auf dem Gebiete der Altertumskunde und der Philosophie.
Die literarischen Kämpfe gegen das Franzosentum eroberten sich allmählich
auch Beachtung in den höheren Kreisen des Adels und der Hofe, so daß sich hier
mit der Zeit ebenfalls eine Umslimmung bemerkbar machte. So hatte Maxi¬
milian III. von Bayern in seinen letzten^Lebensjahren die französische „Komödie"
entlassen und sein Theater einer deutschen Gesellschaft eingeräumt. Auch Friedrich
der Große, der das Franzosentum lange bevorzugt hatte, schrieb 1777 in einem
seiner Randbescheide: „Ich Will keine Frantzosen Mehr, sie seynd gar zu liderlich."
Unangefochten freilich blieb, wenn auch der Franzosen weniger wurden, noch
immer das ausländische Vorbild in Sachen der Kunst und der Mode. Lessing
trug ebenso die französische Perücke wie sein Gegner Voltaire.
§ 97.
Die Bildenden Künste.
1. Der Wokokostil. Die Baukunst und 'mit ihr auch die Bildnern
und Malerei, ebenso das Kunsthandwerk, bewegen sich während des 18. Jahr¬
hunderts, weil sie ganz mit der französischen Mode gehen, in den verweich¬
lichten Formen des Rokoko (gewöhnlich hergeleitet von rocaille, Mnschelwerk).
In diesem Stil macht sich eine willkürliche, auf sinnengefällige Zierlichkeit
ausgehende Weiterbildung des Barockstils geltend: ausladende Gesimse und
gehäufte Zierformen dienen zur Belebung der Flächen, alles Gerade wird, wo
immer möglich, gekrümmt oder gedreht, an Stelle des Gesetzmäßigen schein-
bare Regellosigkeit gesetzt.
a) Die Architektur verwertete den Rokokostil vorzüglich in der Anlage von
Prunkfchlöffern, Privatpalästen und Gotteshäusern. Diese Bauten erhalten schmuck-
volle Fassaden und gesimsreiche Portale, breite oder rundliche Fenster mit zier-
lichen Umrahmungen, ein in Absätze gebrochenes, manchmal mit einer Ballustrade
von Zwergsäulen eingefaßtes Dach und einen in geschwungenen Linien auf-
steigenden Giebel, der von Vafenformen und anderen Zierstücken gekrönt lift; die
Säulen werden gewunden oder in unterbrochenen Absätzen ausgerichtet, noch öfter
durch Pfeiler und Pilaster ersetzt, die nach oben als grimassenziehende Gebälkträger
(oder Atlanten) gebildet sind; die Wände werden gerne mit Stuck- und Muschel-
ornamentierung ausgestattet; Türme und Türmchen, namentlich die Kirchentürme,
laufen nach obenzu in stark ausgebauchte Kuppeln aus (Zwiebeltürme).