Full text: Geographische Charakterbilder aus Europa (Teil 2)

98 
Ost - Europa. 
sah man denn die im Bau begriffenen Erdarbeiten für die neue 
Steinkohlenbahn, die, das Donezbecken durchschneidend, die Wolga mit 
dem hauptsächlichsten im Betriebe befindlichen Kohlenbergwerke verbinden 
wird. Zur Zeit machten die Erdarbeiten einen trostlosen Eindruck. 
Die Bewohner lebten wie wahre Trappers iu unterirdischen Hütten. 
Auf der Station Schachtü erwartet den Reisenden eine große 
Überraschung: nachdem seit 24 Stunden die gesamte für ihn sichtbare 
Menschheit aus Bahubeamten und Kellnern bestanden hat, wird er 
in Schachtü plötzlich von einer lärmenden, gedrängten Menschenmenge 
umgeben. Man erschrak ordentlich vor den vielen fremden Leuten. 
Hunderte von geschwärzten, rußigen Kohlenarbeitern aus den nahen 
Anthracitgrnben scharen sich um das einzige Ereignis des Tages — 
den ankommenden Bahnzug. Die gauze Umgebung der Station ist 
mit hohen Fabrikschornsteinen, mächtigen Schuppen und Werkstätten 
ausgefüllt; der Arbeiterverband hat seine Wohnhäuser zu einem Dorfe 
vereinigt. Daneben giebt es recht geschmackvolle Landhäuser der Berg- 
Werksbesitzer, die freilich etwas verirrt in der nackten, absolut bäum- 
losen Fläche sich ausnehmen. 
Bald nach dem Kohlendistrikte passiert die Bahn Nowotscherkask, 
die Hauptstadt des Donschen Kosakenlandes, welche auf einem schroffen 
Felsen nach Art der Raubburgen am Rhein erbaut ist. Es führt 
durch ein großes Thor barocksten Baustiles eine Straße fast senkrecht 
in die Stadt hinein. Das Thor, sowie die in gerader Perspektive 
dahinter stehende Kirche, ist durchbrochen, und mit unregelmäßigen 
Schnörkeln geschmückt, so daß der Ort eiuen phantastischen Eindruck 
macht, wie eine frischgemalte Theaterconlisse. Übrigens verdient er, 
trotz dieser Dekorationen und seiner 33000 Einwohner kaum den 
Namen einer Stadt; er besteht aus eiuer Menge auf dem Berge 
festgeklammerter Häuschen kleinsten Umfanges. 
In den bisher passierten Städten war überall die Abhängigkeit 
des Lebens von St. Petersburg bemerkbar gewesen; von dort aus 
kommt die ganze Richtung des geselligen und politischen Lebens, dort- 
hin strebt fast jeder gebildete Russe. Rostow ist jetzt der erste Ort, 
in dem man größere Selbständigkeit wahrnimmt. Die weite Ent- 
fernnng vom Mittelpunkt des Reiches, der Handel auf dem Afowfcheu 
Meere sind wohl die Ursachen dieser Erscheinung. Der ankommende 
Fremde wird iu Rostow gefragt: „Kommen Sie aus Rußland"? — 
Rostow ist noch 40 Kilometer vom Afowfchen Meere entfernt; 
der Quai und der eigentliche Mittelpunkt des Handels liegt tief unter 
der Stadt, die sich auf steiler Anhöhe erhebt. Holz, Tabak und
	        
Waiting...

Note to user

Dear user,

In response to current developments in the web technology used by the Goobi viewer, the software no longer supports your browser.

Please use one of the following browsers to display this page correctly.

Thank you.