An der Quelle der Theiß.
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vordem der Krönungshügel sich erhob, den nach der Krönung, den
Säbel nach den vier Himmelsrichtungen schwingend, die Könige von
Ungarn in alter Sitte hinansprengten. Jetzt schmückt den Platz das
Standbild des Grasen Stephan Szechenyi, des verdienstvollsten Patrioten
Ungarns. Oder ists umgekehrt richtiger, daß der viel schönere Platz das
Erzbild schmückt? Doch es ist dunkel genug, daß wir die Entscheidung
gern bis auf ein andermal vertagen können.
12.
Fn der (Quelle der Theiß.
— Wuöotf Wergner —
Hoch in den Karpaten nimmt die Theiß ihren Ursprung. Ihren
Quellen gilt unser Ausflug. Wir brechen von Körösmezö auf. Die
Bergweiden liegen hier in unmittelbarer Nähe des Ortes, so daß man
mit bloßem Auge sehr gut beobachten kann, was auf denselben vor-
geht. In der letzten Nacht sind sie mit Schnee bedeckt gewesen, und
auch jetzt hängen noch graue, unheimliche Wolken über ihuen, welche
die Berge oft verhüllen. Diese zeigen sich bald hier, bald dort,
häufig bleiben sie längere Zeit in der Umarmuug des Nebels be-
fangen. Wir fahren an den zerstreut liegenden Gehöften des Ge-
birgsortes hin, höher und höher gelangend. Rotgeschürzte Frauen
arbeiten auf den Feldern, Männer fällen zuweilen einige Bäume,
Kinder hüten, melancholisch drein schauend, das Vieh. Endlich ist
auch das letzte Dorf und das letzte Stück Vieh uuseru Blicken ent-
zogen, und wir sind allein mit der uueutweihteu Natur. Vor uns
steigen mehrere Berge empor, sie bilden ein mit Wolken erfülltes
Thal, in welches wir jetzt hineinfahren. Binnen 5 Minuten befinden
wir uns in dem nassen Reich, und die Feuchtigkeit der Wolken ver-
mischt sich mit der Kälte der Luft. Der Fluß schlängelt sich in dem
wildromantischen Thal dahin, er bewässert den Fuß der mächtigen
Tannen, die schweigend an seinen Ufern emporsteigen. Plötzlich ändert
sich das Bild. Wir genießen eine freie Umschau auf die Landschaft
in unferm Rücken und gewahren einen prächtigen Regenbogen. Er um-
faßt aber nicht den Himmel, sondern sinkt zum großen Teil ins Thal
hinab, so daß man einige grünbewaldete Berge durch seine bunten Farben
durchschimmern sieht. So gleicht der Regenbogen einer riesigen bunten
Bolz, Geogr. Charakterbilder. Europa. 9