Full text: Geographische Charakterbilder aus Europa (Teil 2)

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Nord-Europa. 
dem wohlversorgten Weinvorrate des Schiffes mit hinaufgenommen 
hatten. So waren wir denn unversehrt beisammen nach weiterer halb- 
stündiger Wanderung au der Spitze des Nordkaps — an der Nord- 
spitze des Erdteils. 
Dort oben ragt eine kleine Steinsäule auf, zum Andeuten an 
den Besuch König Oskars. Auf deu Stufen der schmucklosen Säule 
sitzen wir nieder und schaueu hinaus auf das rotüberstrahlte offene 
Eismeer. Im Norden kein entdecktes Land mehr, im Nordosten 
wohl tausend Kilometer weiter das geheimnisvolle Franz Josephs- 
Land. Es ist ein großes Gefühl, das Einen da überkommt. Dort 
im Süden sorgen und schaffen, arbeiten uud streben, mühen und 
freuen sich so viele hundert Millionen Menschen — du aber stehst 
einsam auf umbraudeter Höhe, vor dir die senkrechte Kluft, uebeu 
dir das Meer, und alles, was Europa heißt, liegt dort unten in 
südlicher Ferne, schlummert jetzt von Sorge und Mühe, während 
dir nahe und schön die ewige Sonne strahlt — und was alles 
wird das Tagesgestirn erschauen, das eben jetzt, um die Stunde der 
Mitternacht, von neuem von der Fläche des Meeres aufsteigt zu 
ueuem Wege, um von neuem diesem Erdteil Segen zu speudeu. 
Hiuter uns — „etwas südlicher" — jubelt es aus. Der Sekt 
wird entkorkt, und die Gläser klingen. Das erste Glas gilt der 
strahlenden Souue der Mitternacht, das zweite dem heiß ersehnten, 
mühsam erreichten Nordkap, das dritte dem ganzen Erdteil, dessen 
nördlichste Menschen wir sind, ein viertes dem „Land voll Lieb und 
Leben, dem deutscheu Vaterland". 
Strahlend in roter Glut steht die Morgensonne am Himmel — 
es ist dreiviertel Stunden nach Mitternacht — als wir uns zum 
Abstieg rüsteten. Es erfaßt Einen ein förmliches Grauen, wenn man 
den schwindelnden, senkrechten Weg hinabblickt zum Meer; man ver- 
liert den Mut, weuu man das steile Schneefeld und den abschüssigen 
Pfad vor sich sieht. Und doch giebt es keinen andern Weg hinab 
von dem Nordfelsen der Insel Maggerö — bekannter unter dem 
Namen „das Nordkap". 
Drunten merkten wir kaum was von den ganz kräftigen Wellen; 
in der erstaunlich gehobenen Stimmung, in der man sich befindet, ist 
ein so schwierig Stück Arbeit glücklich gelungen. Da saßen wir bei 
dem steifeu „Toddy", dem Nationalgetränk der Nordmeerfahrer und 
tranken auf das gelungene Werk und auf den Kapitän, der uns nun 
gar noch anf vierstündigem Umwege nach dem märchenhaften Vogel- 
berg führen wollte.
	        
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