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deutsch in ihren Lothringern, belgisch in ihren Flamändern, englisch und
skandinavisch in ihren Normännern, keltisch in ihren Bretagnern, iberisch
in ihren Basken und Gascognern. Darum ist sie mit nichts ganz unbe¬
kannt, zu allem geschickt und besitzt keine Tugend in vorzüglich hohem
Grade. Ihr wurde die Allgemeinheit zuteil, die Tiefe dagegen versagt.
Die thätige und praktische Seite des Lebens hat das Übergewicht über das
Nachdenken und die Theorie, der Verstand über das Herz, die Vernunft
über die Einbildungskraft, die sichtbare Welt über die unsichtbare, das
romanische Element über das germanische.
d) Im besonderen.
Der Franzose ist mehr gewandt und behende als stark. Man be¬
wundert seine Mäßigkeit. Ihre Tapferkeit macht die Franzosen zu
verwegenen, im Angriff unwiderstehlichen Kriegern, deren Hitze aber bald
nachläßt; sie sind ein kampfliebendes, angreifendes, eroberndes Volk.
— Unerschöpflich ist ihr Schatz von Fröhlichkeit, welche der Wider¬
schein ihres lachenden, anmutigen Landes zu sein scheint. Mit der Fröh¬
lichkeit verbindet sich viel Witz, jener feine, zarte, an guten Einfällen
reiche, oft spöttische, aber mehr boshafte als bösartige Witz, welchen sie in
höherem Grade, als irgend ein anderes Volk besitzen; durch ein feines
Schicklichkeitsgefühl gemäßigt, verbreiten sie über alle Verhältnisse
des geselligen Lebens einen Reiz, welchen man sonst nirgends findet; sie
lassen über der Gegenwart Vergangenheit und Zukunft vergessen; sie arten
in einen Leichtsinn aus, welcher nur noch auf das Äußere und die
Form achtet, in einen übermäßigen Hang zu Vergnügungen, welcher
die einzige Triebfeder eines ganzen Lebens wird und notwendig Sitten¬
verderbnis zur Folge hat.
Die Franzosen sind offenherzig, freimütig, zuvorkommend, leutselig,
mitteilsam und umgänglich; sie schließen sich leicht an andere an, sind für
die Gesellschaft geschaffen und ziehen dieselbe dem Familienleben vor. Die
Franzosen sind das geselligste Volk der Erde. Sie haben sanfte Sitten
und viel Herzensgüte; die mörderische Rache der Italiener kennen sie nicht,
und ihre Volksfeste bestehen nicht in blutigen Stierkämpfen. Ihre Leiden¬
schaften sind lebhaft und werden selten durch das Pflichtgefühl bekämpft;
sie besänftigen sich aber schnell und haben weder Ernst noch Dauer. Wie
die Leidenschaften, so ermangeln auch ihre Neigungen der Tiefe: Familie,
Gesellschaft, Staat haben weit weniger die Gefühle der Liebe und Treue
als gegenseitige Schicklichkeitsgründe und einen Trieb nach Geselligkeit zur
Grundlage. Doch sieht man all die liebenswürdigen Eigenschaften der
Franzosen im Aufbrausen der Leidenschaften ganz verschwinden und der
entsetzlichsten Grausamkeit weichen.
Mehr als die Pflicht gilt dem Franzosen die Ehre als Richtschnur
seines Lebens; ist auch sein sittliches Gefühl schwach und sein Gewissen
stumm, so wird er doch nie etwas gegen die Ehre thun. Aber diese
Selbstachtung ist zu oberflächlich und leer, um die Achtung anderer ent¬
behren zu können; daher beherrscht den Franzosen eine Ruhmbegierde,
welche die Quelle großer Thaten ist, aber sich oft auch mit Verletzung des
Sittengesetzes befriedigt; daher rührt die Sucht zu glänzen, die Eitelkeit