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Lessing.
„Kennst du mich, Schäfer?" fragte der Wolf.
„Deinesgleichen wenigstens kenne ich," versetzte der Schäfer.
„Meinesgleichen? Daran zweifle ich sehr. Ich bin ein so sonder¬
barer Wolf, daß ich deiner und aller Schäfer Freundschaft wohl wert bin."
„Und wie sonderbar bist du denn?"
„Ich könnte kein lebendiges Schaf würgen und fressen, und wenn
es mir das Leben kosten sollte. Ich nähre mich bloß mit toten Schafen.
Ist das nicht löblich? Erlaube mir also immer, daß ich mich dann und
wann bei deiner Herde einfinden und nachfragen darf, ob dir nicht
„Spare der Worte! sagte der Schäfer. Du müßtest gar keine Schafe
fressen, auch nicht einmal tote, wenn ich dein Feind nicht sein sollte.
Ein Tier, das mir schon tote Schafe frißt, lernt leicht aus Hunger
kranke Schafe für tot und gesunde für krank ansehen. Mache auf meine
Freundschaft also keine Rechnung und geh!"
VI.
„Ich muß nun schon mein Liebstes daran wenden, um zu meinem
Zwecke zu gelangen;" dachte der Wolf und kam zu dem sechsten Schäfer.
„Schäfer, wie gefällt dir mein Pelz?" fragte der Wolf.
„Dein Pelz? sagte der Schäfer, laß sehen! Er ist schön; die
Hunde müssen dich nicht oft unter gehabt haben."
„Nun so höre, Schäfer; ich bin alt und werde es so lange nicht
mehr treiben. Füttere mich zu Tode, und ich vermache dir meinen Pelz."
„Ei, sieh doch! sagte der Schäfer, kömmst du auch hinter die Schliche
der alten Geizhälse? Nein, nein! dein Pelz würde mich am Ende
siebenmal mehr kosten, als er wert wäre. Ist es dir aber ein Ernst,
mir ein Geschenk zu machen, so gieb ihn mir gleich jetzt." Hiermit griff
der Schäfer nach der Keule, und der Wolf floh.
VII.
„O die Unbarmherzigen! schrie der Wolf und geriet in die äußerste
Wut. So will ich auch als ihr Feind sterben, ehe mich der Hunger
tötet; denn sie wollen es nicht besser!"
Er lief, brach in die Wohnungen der Schäfer ein, riß ihre Kinder
nieder und ward nicht ohne große Mühe von den Schäfern erschlagen.
Da sprach der weiseste von ihnen: „Wir thaten doch wohl unrecht,
daß wir den alten Räuber auf das Äußerste brachten und ihm alle
Mittel zur Besserung, so spät und erzwungen sie auch war, benahmen."