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zog Bauernkleider au, schlich sich in das dorische Lager, und fing mit einem
feindlichen Soldaten Streit an; es kam zu Schlägen und Kodros wurde er¬
schlagen. Sein Leichnam wurde erkannt, und Schrecken bemächtigte sich der
Feinde. Sie wandten sogleich um nach dem Peloponnes. Die Athenienser
aber waren schon lange des Königthums überdrüssig, und wünschten eine Ver¬
änderung. „Keiner," sprachen sie, „ist es Werth, der Nachfolger des trefflichen
Kodros zu sehn," und so wählten sie seinen ältesten Sohn zum Archonten
auf Lebenszeit. Darüber grollten dessen Brüder. Lieber wollten sie in der
Fremde eigenen Gesetzen, als daheim dem Bruder gehorchen. An Müssiggängern,
die sie begleiteten, fehlte es nicht; überdies war Attika mit Menschen überfüllt.
Darum wanderte (wie schon oben erzählt) ein großer Schwarm aus, und ließ
sich an der Westküste Klein-Asiens nieder. Sie nannten sich Ionier, und
erbauten da eine Menge blühender Städte. Die lebenslänglichen Archonten
behielt man über 300 Jahre bei (bis 653). Von da an gab es 70 Jahre
lang auf zehn Jahre gewählte Archonten, worauf beschlossen wurde, daß die
Archontenwürde jährlich wechseln, und zwar daß 9 sich in die Gewalt theilen
sollten.
In Athen aber fühlte das Volk bald, daß die sogenannte Freiheit die Be¬
wohner eines Staates nicht glücklich mache. Unter den Königen war Ord¬
nung und Gerechtigkeit gewesen; jetzt aber erhoben die Reichen und Vornehmen
ihr Haupt mehr als je und drückten das Volk, und schrie dieses nach Gerechtig¬
keit, so zeigte es sich, daß, wo es an bestimmten Gesetzen fehlte, auch keine
Gerechtigkeit stattfinden könne. Da übernahm es (624) der Archont D r a k o n,
dem Volke Gesetze zu geben. Aber es wurde dadurch wenig gebessert; denn er
war zu diesem schweren Geschäfte nicht geeignet. Er hatte nämlich auf alle
Vergehungen zwei Strafen: Tod oder Verbannung gesetzt, so daß, wenn man
sie hätte streng beobachten wollen, Athen bald entvölkert gewesen sehn würde.
Man sagt daher von ihnen, sie sehen mit Blut geschrieben gewesen. Es riß also
bald wieder die alte Gesetzlosigkeit ein. Man sah drei Parteien gegen einander
kämpfen, und in den Straßen Athens Blut fließen.
Da ließ die Vorsehung, die über das Glück aller Völker wacht, einen
Mann aufstehen, welcher auf Jahrhunderte lang der Wohlthäter seines Volkes
wurde, indem er ihm zweckmäßige Gesetze gab, unter denen es sich wohl befand.
Dieser Mann war Solon, aus dem Geschlechte des Kodros. Er lebte um
das Jahr 600, und benutzte sein Ansehen als Archon, die neue Verfassung ein¬
zuführen. Gleich durch das erste Gesetz verschaffte er der ärmern Klasse unend¬
liche Erleichterung. Die Armen waren nämlich nach und nach in Schulden
gerathen, und die Zahlungsunfähigkeit gab dem Gläubiger das Recht, dem
Schuldner nicht nur alles Eigenthum zu nehmen, sondern ihn selbst zum Sclaven
zu machen. Da schaffte Solon Hülfe. Er setzte die Zinsen herunter und gab
dem Gelde einen höhern Werth, so daß nun die Armen mit wenigerem Gelde
die Schulden abzahlen konnten. So sehr sich nun auch Solon dadurch um
die ärmere Klasse verdient machte, so erkannte man die Wohlthat doch nicht
ganz an. Man tadelte ihn, daß er nicht die Schulden ihnen ganz erlassen, und,
wie Lhkurg, die Aecker in gleiche Theile getheilt hätte; und die Reichen waren
vollends nicht zufrieden, weil er ihnen ihr Eigenthum geschmälert habe. Und doch
war er ihnen mit gutem Beispiele vorangegangen, indem er seinen Schuldnern