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4.
Herbstlied.
1. Ich sah den Wald sich färben, 4. Da plötzlich floß ein klares
die Luft war grau und stumm; Getön in Lüften hoch:
mir war betrübt zum Sterben ein Wandervogel war es,
und wußt' es kaum, warum. der nach dem Süden zog.
2. Durchs Feld vom Herbst—
gestäude
hertrieb das dürre Laub.
Da dacht ich: Deine Freude
ward so des Windes Raub.
3. Dein Lenz, der blütenvolle,
dein reicher Sommer schwand;
an die gefrorne Scholle
bist du nun festgebannt.
5. Ach, wie der Schlag der
Schwingen,
das Lied ins Ohr mir kam,
fühlt' ich's wie Trost mir dringen
zum Herzen wundersam.
6. Es mahnt aus heller Kehle
mich ja der flücht'ge Gast:
Vergiß, o Menschenseele,
nicht, daß du Flügel hast!
E. Geibel.
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VDie Bürgschaft.
1. Zu Dionys, dem Tyrannen, schlich
Damon, den Dolch im Gewande;
ihn schlugen die Häscher in Bande.
„Was wolltest du mit dem Dolche? sprich!“
entgegnet ihm finster der Wüterich. —
„„Die Stadt vom Tyrannen befreien!“““ —
„Das sollst du am Kreuze bereuen.“
2. „Ich bin,“ spricht jener, „zu sterben bereit
und bitte nicht um mein Leben;
doch willst du Gnade mir geben,
ich flehe dich um drei Tage Zeit,
bis ich die Schwester dem Gatten gefreit;
ich lasse den Freund dir als Bürgen,
ihn magst du, entrinn' ich, erwürgen.“
3. Da lächelt der König mit arger List
und spricht nach kurzem Bedenken:
„Drei Tage will ich dir schenken;
doch wisse, wenn sie verstrichen, die Frist,
eh' du zurück mir gegeben bist,
so muß er statt deiner erblassen;
doch dir ist die Strafe erlassen.“