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§ 35. Der Trojanische Sagenkreis.
c) Odysseus, nicht minder ein mutiger Streiter als ein gewandter Unter-
Händler und Kundschafter, trat seit dem Tode des Achill und des Aias als kluger
Berater des Heeres an die vorderste Stelle. Von einem troischen Weissager, den er
aufgefangen, war er belehrt worden, daß ohne Philoktet und ohne Neoptolemus,
den Sohn des Achill, die feindliche Stadt nicht eingenommen werden könne. Un-
verzüglich machte er sich aus, ersteren von Lemnos, letzteren aus der Heimat herbei-
zuholen. Diese beiden Helden förderten alsbald das Kriegswerk soweit, daß die
Trojaner wieder aus dem Blachfelde vertrieben und in ihre Stadt eingeschlossen
wurden. Hiebet fand auch Paris den verdienten Tod. Der Schlauheit des
Odysseus aber blieb es vorbehalten, das zu vollenden, was Stärke und Tapferkeit
bisher nicht zu stände gebracht.
7. Einnahme und Zerstörung der Stadt. Neue Anschläge des Odysseus
führten Stadt und Volk der Trojaner dem unvermeidlichen Endschicksal ent-
gegen. Des stadtschirmenden Bildnisses der Göttin Athene beraubt und mit
Verblendung geschlagen, zogen sie das Hölzerne Roß mit den darin ver-
borgenen Feinden selber in ihre Stadt. In Brand und Mord geht das
„Heilige Jlinm" zu Grunde.
a) Raub des Palladiums. Von Athene, seiner mächtigen Schutzgöttin,
beraten, war Odysseus im Verein mit Diomedes durch einen unterirdischen Gang in
die Burg Pergämum eingedrungen und hatte daraus das Palladium, das Schutz-
bild der Stadt, weggeraubt.
b) Das Hölzerne Roß. Darauf ließ Odysseus ein riesengroßes, hölzernes
Roß (ehemals wohl nur als seindebeladenes „Schiffsroß" gedacht) erbauen. In diesem
versteckte er sich mit den tapfersten Helden, während das übrige Heer zum Scheine
nach der benachbarten Insel Tenedns abzog. Ungeachtet der Mahnungen ihres
Priesters Laoköon (der vor den Danaern warnte und deshalb durch zwei von
Poseidon gesendete Schlangen einen grauenhaften Tod fand) zogen die Trojaner
das vermeintliche Weihegeschenk, wofür es der Betrüger Sinon ausgegeben, in ihre
Stadt. Darauf überließen sie sich sorgloser Siegesfreude.
c) Trojas Untergang. Nächtlicherweile aberstiegen die griechischen Helden
aus ihrem Versteck und öffneten den zurückgekehrten Genossen die Thore. Ein
schaudervolles Mordgewühl hebt an. In Schrecknissen aller Art sinkt Troja in
Staub. Auch Priamus und Hektors Söhnchen Astyänax fallen dem Rachedurst der
Sieger zum Opfer. Was nicht in Kampf und Feuersglut zu Grunde ging, wurde
als Siegesbeute weggeschleppt. Unter den Kriegsgefangenen war auch Hektors edle
Gemahlin Andromache, die leidbeladene Königin Hekäbe (oder Heküba) und ihre
Tochter Kaffandra, die unglückliche Seherin, die alles Unheil voraussah und
doch keinen Glauben finden konnte; eine andere Tochter, Namens Polyxena, wurde
den Manen des Achilleus geopfert, dem sie vormals verlobt worden war. Nur
Äneas, der Dardanerkönig, der Sohn des Anchises, entkam unter Aphrodites Schutz
mit den Seinigen nach Italien und wurde der Stammvater des römischen Volkes.
II. Die Heinifahrt der überlebenden Helden.
Die nach Kleinasien ausgewanderten Geschlechter sind, wie natürlich,
dortselbst seßhaft geblieben. An Stelle des altheimatlichen Königtums trat