Und dennoch schleicht die böse Seuche,
Das Unglück durch die Straßen fort,
Vergiftet, quält, entpresset Thräneu,
Und übt Verrath und Meuchelmord.
Verliere drum die Fassung Keiner:
Denn einem Acker gleicht die Welt,
Wo mitten in das Korn der Freuden
Gar manches Leidenskörnlein fällt.
Heil uns, wenn noch die Saat des Glückes
So reich hienieden wächst heran,
Daß hinter ihren grünen Halmen
Das Unglück sich verstecken kann.
86. Aöerrdfeier in Venedig.
Ave Maria! Meer und Himmel ruh'n,
Von allen Thürmen hallt der Glocken Ton:
Ave Maria! Laßt vom ird'schen Thun!
Zur Jungfrau beiet, zu der Jungfrau Sohn,
Des Himmels Schaaren selber knieen nun
Mit Lilienstäben vor des Vaters Thron,
Und durch die Rosenwolken weh'n die Lieder
Der sel'gen Geister feierlich hernieder.
O heil'ge Andacht, welche jedes Herz
Mit leisen Schauern wunderbar durchdringt.
O sel'ger Glaube, der sich himmelwärts
Auf des Gebetes weißem Fittich schwingt! —
In milde Thränen löst sich da der Schmerz,
Indeß der Freude Jubel sanfter klingt. —
Ave Maria! Wenn feie Glocke tönet,
So lächeln Erd' und Himmel mild versöhnet.
Geibel.
87. Der Gewitterabend.
3a, wahrlich, du bist schön! bist einer ew'gen Milde
Und einer ew'gen Kraft unsträfliches Gebilde,
Du nieiner Wallfahrt Land, dir Land, das mich gebar,
Mich säugte, mich erzog, mir Wieg' und Amme war,
Mich dreißig Frühlinge nüt seinen Rosen kränzte,
Mir im kristaü'nen Schnee durch dreißig Winter glänzte,
Und einstens diesen Staub, durch Gottes Hauch belebt,
In seinen Schoß begräbt.
Schön bist du, Erde, schön im gold'nen Somnierkleide!
Dich grüßt mein Preisgesang, dich ehret meine Freude.
Sieh', wie die gelbe Saat die schweren Häupter neigt;
Wie unter seiner Last das schwanke Reis sich beugt!
Wie auf der fetten Trift die satte Herde hüpfet,
Wie durch das hohe Gras das Sonuenwürmchen schlüpfet!
Horch, wie der Wachtelschlag im Weizen, tief im Wald
Der Drossel Flöte schallt!
Doch schwüler wird die Luft, die Kreaturen ächzen;
Die matte Schöpfung stöhnt; die welken Fluren lechzen.
Allvater winkt, und schnell klimmt schwarze Wetternacht
Herauf aus Süd' und West. Des Sturmes Kraft erwacht.
Es blitzt. Der Donner grollt. Die Bodenfcste zittert,
Das wilde Weltmeer tobt. Der Eichwald dampft und splittert,
Der Haingesang verstummt. Des Helden Roß entfleucht,
Des Helden Wang' erbleicht!
Kellner, Lesebuch.
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