Full text: Deutsches Lesebuch ([Teil 1, [Schülerbd.]])

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145. Die Wichtelmänner). 
Die Brüder (Jakob und Wilhelm) Grimm. 
Kinder- und Hausmärchen. Große Ausgabe. 10. Auflage. Berlin. 1872. 8. 160. 
(I. Band. 1. Auslage. Berlin. 1812. II. Band. 1816.) 
1. Es war ein Schuster ohne seine Schuld so arin geworden, 
daß ihm endlich nichts mehr übrig blieb als Leder zu einein 
einzigen Paar Schuhe. Nun schnitt er am Abend die Schuhe 
zu, die wollte er den nächsten Morgen in Arbeit nehmen, und weil 
er ein gutes Gewissen hatte, so legte er sich ruhig zu Bett, befahl 
sich dem lieben Gott und schlief ein. Morgens, nachdem er sein 
Gebet verrichtet hatte und sich zur Arbeit niedersetzen wollte, so 
standen die beiden Schuhe ganz fertig auf seinem Tisch. Er 
verwunderte sich und wußte nicht, was er dazu sagen sollte. Er 
nahm die Schuhe in die Hand, um sie näher zu betrachten; sie 
waren so sauber gearbeitet, daß kein Stich daran falsch war, gerade 
als wenn es ein Meisterstück sein sollte. Bald darauf trat auch 
schon ein Käufer ein, und weil ihm die Schuhe so gut gefielen, so 
bezahlte er mehr als gewöhnlich dafür, und der Schuster konnte von 
dem Gelde Leder zu zwei Paar Schuhen erhandeln. Er schnitt sie 
abends zu und wollte den nächsten Morgen mit frischem Mut an 
die Arbeit gehn, aber er brauchte es nicht, denn als er ausstand, 
waren sie schon fertig, und es blieben auch nicht die Käufer aus, 
die ihm so viel Geld gaben, daß er Leder zu vier Paar Schuhen 
einkaufen konnte. Er fand früh morgens auch die vier Paar fertig, 
und so ging's immer fort; was er abends zuschnitt,' das war am 
Morgen verarbeitet, also daß er bald wieder sein ehrliches Auskommen 
hatte und endlich ein wohlhabender Mann ward. 
2. Nun geschah es eines Abends nicht lange vor Weihnachten, 
als der Mann wieder zugeschnitten hatte, daß er vor Schlafengehn 
zu seiner Frau sprach: „Wie wär's, wenn wir diese Nacht aufblieben, 
um zu sehen, wer uns solche hilfreiche Hand leistet?" Die Frau 
war's zufrieden und steckte ein Licht an; darauf verbargen sie sich 
in den Stubenecken hinter den Kleidern, die da aufgehängt waren, 
und gaben acht. Als es Mitternacht war, da kamen zwei kleine 
niedliche nackte Männlein, setzten sich vor des Schusters Tisch, 
nahmen alle zugeschnittene Arbeit zu sich und fingen an, mit ihren 
Fingerlein so behend und schnell zu stechen, zu nähen, zu klopfen, 
daß der Schuster vor Verwunderung die Augen nicht abwenden 
konnte. Sie ließen nicht nach, bis alles zu Ende gebracht war und 
fertig auf dem Tische stand; dann sprangen sie schnell fort. 
3. Am andern Morgen sprach die Frau: „Die kleinen Männer 
haben uns reich gemacht, wir müßten uns doch dankbar dafür 
0 Wichtelmänner, Kobolde, Zwerge.
	        
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