137. Vom Lesen.
^^aS gute und richtige Lesen ist in jeder Sprache eine wichtige
und nicht ganz leichte Sache. Wichtig ist es, weil
vom richtigen Lesen auch das Verstehen und Deurtheilen des Ge¬
lesenen abhängt. Schwer ist es, weil gutes Lesen (und auch
Sprechen) der alleroobkommenste Gesang ist, und in keiner Me¬
lodie so viel Mannigfaltigkeit der Töne, und so feine Uebergänge
von einem zum andern Vorkommen, als beim guten Lesen und
Sprechen. Ein berühmter Mann ließ, um die Geschicklichkei-
ten und Fähigkeiten junger Leute zu prüfen, sie blos etwas le¬
sen, und irrte sich in dem darnach gefällten Urtbeile nie. Es
kommt beim guten Lesen hauptsächlich auf 2 Stücke an, nem-
lich thests auf eine den Sachen angemessene Biegung der Stim¬
me, welche sich aber nicht gut beschreiben läßt; theils auf die
richtige Legung des Tons, nicht nur bei einzelnen Wörtern, ssn-
dern auch bei ganzen Gedanken.
IZ8. Fortsetzung vom Lesen.
Oie nachdem der Ton auf diese oder jene Sylbe in einem Wor-
te, oder wenn mehrere Wörter beisammenstehen, auf das
'eine oder andere gelegt wird, bekommen oft einzelne Wörter so-
wol als ganze Sätze eine sehr verschiedene Bedeutung. Z. B.
Geber ist etwas anderes als gch->t, nachdem der Ton auf der
ersten oder auf der zweiten lwgt; erblich (von erben) ist et¬
was anderes als erbli ch (von erbleichen). — In der Frage;
Fttide ich Dich hier? ist vicrsach verschiedener Sinn, je nach¬
dem ich den Ton lege. Finde ich dich hier? sagt: ich glaubte,
du wärst anderswo. Finde ich Dich hier's heißt, ich vermu-
thete sonst jemanden hier zu finden. Finde ich dich hier? d. i.
es suchte dich ein anderer. FinDe ich dich hier's d. i. ich
suchte dich lange vergeblich. Man sieht hieraus, wie nöthig
es sey, den Ton recht zu setzen.
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