Full text: Dr. Ludwig Wachler's Lehrbuch der Geschichte zum Gebrauche in höheren Unterrichts-Anstalten

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Geschichte des Mittelalters. 
und durch ihre Bekenner als reiche Quellen bitteren Hasses und ewiger 
Feindseligkeiten gemißbraucht. — Der Endertrag aller Erschütterungen, 
Bewegungen und Veränderungen ist im Oriente und Occidente höchst ver¬ 
schieden; jener erlieget unter religiös-kriegerischem Despotismus; nur die 
Herrscher haben Rechte, und Gewalt allein entscheidet; im Occidente 
(zum Thcile auch bey den Arabern) entfalten sich Verfassungen und Na¬ 
tionalität; persönliche Freyheit geht nicht, wie im Alterthume, im Ge¬ 
meinwesen auf; das einzelne Mitglied des Staatsvereins hat Rechte und 
macht Ansprüche geltend; es gestalten sich Privatrecht und Zweykampf. 
Aus eng verschlungenen Familienkreisen entwickeln sich Mutter- und Kin¬ 
derliebe und Achtung für das Weib, die Grundlage aller gesellschaftlichen 
Ordnung und der sich erweiternden Verbindungen in Hof, Gemeinde, Gau, 
Herzogthum und Reich hervor; Rittergcist und Bürgersinn erzeugen und 
nähren fromme Kraft und Männlichkeit; die wundersame Veredelung des 
Gemüths und sein Ringen nach Höherem spricht sich in großartiger Bild- 
nerey aus; das Gefühl des namenlosen Ewigen wird in Gewölben, Hal¬ 
len, Säulen und Thürnen veranschaulicht; das Heldenleben germanischer 
Vorzeit wird im Niebelungen-Epos, die kühnste Verknüpfung der Vergangen¬ 
heit und Gegenwart, des Sichtbaren und Unsichtbaren in Dante's Gesich¬ 
ten offenbar; und die Herrlichkeit, der Reichthum, die Tiefe des Germa¬ 
nenlebens im Mittelalter spiegeln sich strahlend ab in den unsterblichen 
Werken Raphael's, Tizian's, Correggio's, Dürer's , Holbein's, Ariosto's, 
Tasso's, Shakespeare's u. Calderon's. Unbeschreiblich ergiebig ist dieses Zeit¬ 
alter an Gebilden des Glaubens; dem Volke thut sich ein inneres Leben 
auf, wie es nur im engeren Verkehr mit derGeisterwelt erwachsen konnte; 
und es hat sich mit aller seiner Unbegreiflichkeit und kindlichen Wunder¬ 
barkeit in frommen Sagen und lieblichen Mährchen uns erhalten. — 
Hauptvölker im Abendlande sind die germanischen, deren Staatsverfassung 
und politische Eigenthümlichkeit durch gegenseitiges Verhältniß der Erobe¬ 
rer zu den eroberten Ländern, durch innere Lage und äussere Umgebungen 
bestimmt werden; die Normänner seit dem Ende des 8ten Jahrh.; 
Slaven s. Mitte des 9ten Jahrh.; im Morgenlande Araber s. Mitte des 
7ten Jahrh.; Türken s. Mitte des dten Jahrh.; Mongolen s. Anfang 
des 13ten Jahrh. Als Nebenvölker sind zu betrachten: Oströmer 
(§. 4l); und die aus Asien sich nach Ost-Europa herübcrziehenden Bul¬ 
garen 463 bis 971; Avaren 667 bis 827; Chazaren 600 bis 1016; 
Petscheneger und Uzen 883 bis gegen Ende des Ilten Jahrh.; Un¬ 
garn s. 889. 
Die Quellen der Geschichte des Mittelalters sind für den Anfang 
derselben selten und ärmlich; die wenigen Denkmäler, welche dahin ge-
	        
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