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Geschichte des Mittelalters.
und durch ihre Bekenner als reiche Quellen bitteren Hasses und ewiger
Feindseligkeiten gemißbraucht. — Der Endertrag aller Erschütterungen,
Bewegungen und Veränderungen ist im Oriente und Occidente höchst ver¬
schieden; jener erlieget unter religiös-kriegerischem Despotismus; nur die
Herrscher haben Rechte, und Gewalt allein entscheidet; im Occidente
(zum Thcile auch bey den Arabern) entfalten sich Verfassungen und Na¬
tionalität; persönliche Freyheit geht nicht, wie im Alterthume, im Ge¬
meinwesen auf; das einzelne Mitglied des Staatsvereins hat Rechte und
macht Ansprüche geltend; es gestalten sich Privatrecht und Zweykampf.
Aus eng verschlungenen Familienkreisen entwickeln sich Mutter- und Kin¬
derliebe und Achtung für das Weib, die Grundlage aller gesellschaftlichen
Ordnung und der sich erweiternden Verbindungen in Hof, Gemeinde, Gau,
Herzogthum und Reich hervor; Rittergcist und Bürgersinn erzeugen und
nähren fromme Kraft und Männlichkeit; die wundersame Veredelung des
Gemüths und sein Ringen nach Höherem spricht sich in großartiger Bild-
nerey aus; das Gefühl des namenlosen Ewigen wird in Gewölben, Hal¬
len, Säulen und Thürnen veranschaulicht; das Heldenleben germanischer
Vorzeit wird im Niebelungen-Epos, die kühnste Verknüpfung der Vergangen¬
heit und Gegenwart, des Sichtbaren und Unsichtbaren in Dante's Gesich¬
ten offenbar; und die Herrlichkeit, der Reichthum, die Tiefe des Germa¬
nenlebens im Mittelalter spiegeln sich strahlend ab in den unsterblichen
Werken Raphael's, Tizian's, Correggio's, Dürer's , Holbein's, Ariosto's,
Tasso's, Shakespeare's u. Calderon's. Unbeschreiblich ergiebig ist dieses Zeit¬
alter an Gebilden des Glaubens; dem Volke thut sich ein inneres Leben
auf, wie es nur im engeren Verkehr mit derGeisterwelt erwachsen konnte;
und es hat sich mit aller seiner Unbegreiflichkeit und kindlichen Wunder¬
barkeit in frommen Sagen und lieblichen Mährchen uns erhalten. —
Hauptvölker im Abendlande sind die germanischen, deren Staatsverfassung
und politische Eigenthümlichkeit durch gegenseitiges Verhältniß der Erobe¬
rer zu den eroberten Ländern, durch innere Lage und äussere Umgebungen
bestimmt werden; die Normänner seit dem Ende des 8ten Jahrh.;
Slaven s. Mitte des 9ten Jahrh.; im Morgenlande Araber s. Mitte des
7ten Jahrh.; Türken s. Mitte des dten Jahrh.; Mongolen s. Anfang
des 13ten Jahrh. Als Nebenvölker sind zu betrachten: Oströmer
(§. 4l); und die aus Asien sich nach Ost-Europa herübcrziehenden Bul¬
garen 463 bis 971; Avaren 667 bis 827; Chazaren 600 bis 1016;
Petscheneger und Uzen 883 bis gegen Ende des Ilten Jahrh.; Un¬
garn s. 889.
Die Quellen der Geschichte des Mittelalters sind für den Anfang
derselben selten und ärmlich; die wenigen Denkmäler, welche dahin ge-