II. Zeitalter Carl s des Gr. in Europa; Glanz des Kha-
lifat's unter Mansttr, Harun al Nafchid u. Mamun.
768 bis 814.
66) Ein halbes Jahrhundert waltet im Zustande und äusseren
Streben der politischen Welt glänzende Herrscher-Größe vor; einsichtvol¬
lere Zeitgenossen mögen sich mit der Hoffnung geschmeichelt haben, daß
die Schrecknisse wilder Völkerverwirrung und zuchtloser Gewaltthätigkeit
beendigt und die Bedingungen zu einem vester geordneten und für die
Dauer bestehenden Staatsleben gewonnen seyen. Aber was Kraft des
Geistes und Willens großer, ihrem Zeitalter überlegener und weit vorauf
eilender Männer vorbereitete und erstrebte, war der Ausführung und
Bewahrung späterer Jahrhunderte Vorbehalten und zog jetzt als täuschen¬
des Traumbild vorüber, welches schnell vor unfreundlicher Wirklichkeit
entweichet. Darum dürfen wir jedoch uns der Armseligkeit des Urtheils,
welche Menschengröße nach Erfolgen und äusseren Ergebnissen, mit dem
von heutigen Erfahrungen und Ansichten hergenommenen Maaßstabe und
wohl gar mit Rücksicht auf den vom Unverstand getriebenen Mißbrauch
würdigt, nicht schuldig machen. Achtung gebühret der die Schranken und
ungünstigen Umgebungen ihrer Gegenwart mit hohem Sinne sich unter¬
ordnenden Eigenthümlichkeit seltener Männer, und die Gerechtigkeit fodert
anzuerkennen, daß das Bessere ihrer Unternehmungen nicht ohne frucht¬
bare Nachwirkung für die Menschheit geblieben ist. Noch waren die
Völker zu der Empfänglichkeit und Tüchtigkeit nicht gereift, welche zu
einem als haltbar sich bewährenden, aus lebendig, tief gefühltem Bedürf¬
nisse und Selbstvertrauen hervorgegangenen gesellschaftlichen Zustande
erfodert werden; vielfache Leiden und Prüfungen waren unerläßlich, ehe
sie dahin gedeihen konnten.
66) Die fränkischen Könige Carl und Carlmann waren unähn¬
liche Brüder und kaum konnte ihre Mutter Bertha fst. 783] den Aus¬
bruch offener Feindseligkeiten verhüten, zu welchen Carlmann's Betra¬
gen und besonders der verweigerte Beystand gegen Hunold in Aquita-