15. Das Mittelalter als Grundlage der Neuzeit.
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Tudors ihren Abschluß. Die Befestigung des Herrscherhauses bedeutete zugleich eine
Stärkung der Königsgewalt gegenüber dem geschwächten höhern Adel. Auch das
Parlament wurde zeitweise durch die Krone n Schatten gestellt; doch war es in drei-
hundertjährigen Kämpfen zu fest gewurzelt, als daß es aus dem Leben dieses Staates
hätte ausgeschieden werden können. Es teilte sich mit der Krone in die Vertretung
englischer Einheit und Macht, die vor allem dadurch und durch die Gunst der insularen
Lage eine stetigere und nachhaltigere geworden ist als irgendwo sonst.
Anders haben sich die Dinge in Spanien gestaltet. Doch war das Königtum auch
hier auf dem Wege, die Kräfte des Volkes zu fester Einheit zusammenzufassen. Die
Verbindung Ferdinands mit Jsabella schuf eine Art Personalunion der beiden Reiche,
die sich so oft in erbitterter Feindschaft gegenübergestanden hatten. Zwar blieb
Portugal abseits, aber Kastilianer und Aragonefen räumten gemeinfam den letzten
Rest maurischer Herrschaft vom Boden der Halbinsel hinweg. In den ersten Tagen
des Jahres, das Kolumbus nach Amerika führte, zogen König und Königin gemeinsam
in Granada ein. Die Macht ihres stolzen Adels zu beugen, hatten sie beide längst
begonnen und blieben sie auch femer beflissen; sie haben in diesem Streben beim bür-
gerlichen Elemente Unterstützung gefunden. Hier wie in andern Ländern erwies es
sich als ein treffliches Mittel, ihn unschädlich zu machen und zugleich der Krone zu
gewinnen, wenn man seinen Ehrgeiz und seinen Tatendrang nach außen lenkte. In
Portugal haben gleichzeitig Johann II. und Manuel die Stellung des Königtums fast
noch erfolgreicher kräftigen können. So standen beide Staaten der pyrenäischen
Halbinsel bereit zu Taten, die den alten Rahmen sprengen sollten.
Als man von der starren Rückständigkeit des Mittelalters zu sprechen begann,
stützte man sich nicht zuletzt aus Argumente, die dem Leben der Kirche entnommen
waren. Das Mittelalter kannte nur die eine römische. Es ist aber gar keine Frage,
daß deren Geschichte, soweit sie sich vor dem Tridentinum abspielt, unendlich viel
reicher und lebendiger verläuft als nach diesem zentralisierenden Revrganisations-
versuch. Die Kirche faßt es selbst nicht anders auf. Wenn sie von ihren großen Päpsten
spricht, so denkt sie an mittelalterliche, nicht an neuzeitliche. Die mittelalterliche Ge-
schichte der Kirche ist voll der verschiedenartigsten Versuche, Richtungen, Bestrebungen,
die durch-, mit- und gegeneinander wirken, auftauchen, verschwinden oder sich Geltung
erringen. Nicht einmal von der Kurie selbst kann man sagen, daß sie mit der Bestän-
digkeit, wie es seit dem Tridentinum der Fall gewesen ist, immer das gleiche Ziel im
Auge gehabt habe.
Und das Ergebnis ist dementsprechend gewesen. Es hat im Mittelalter kaum eine
Zeit gegeben, in der nicht die Lehre der Kirche umstritten worden wäre, und die
grundsätzlichen oder gelegentlichen Auflehnungen gegen ihr Regiment drängten sich
förmlich in geistlichen und in Laienkreisen. Die Frage über den Vorrang von Papst
oder Konzil war keineswegs entschieden, als die großen Reformkonzilien an ihrer
Lösung gescheitert waren. Die von Gregor VII. beanspruchte, von Thomas von
Aquino systematisierte irdische Gottstatthalterschaft blieb eine Doktrin. Bonifatius
VIII., der ihr den verwegensten Ausdruck gab, mußte sich in seinem eignen Palaste
von Dienern des französischen Königs gefangen nehmen lassen.
Wohin man blickt, ist im mittelalterlichen Leben der Kirche Kampf und Be¬
wegung. Die Laienbildung, nie völlig verschwunden, wuchs zusehends im 12. und
13. Jahrhundert, übernahm im 14. und 15. im Geistesleben des Abendlandes die
Führung.