Full text: Fünfzehn Jahrhunderte (Bd. 2, Abth. 1)

14 Gang und Gliederung der christlichen Geschichte. 
heit lastenden Jrrthum finden will, mit gleichem Rechte gefragt werden, 
ob die neue Zeit, indem fie von jenen die Weltverhältnisse betreffenden 
Absichten noch entschiedener zurückgetreten ist und ihre Verfolgung immer 
unmöglicher gemacht hat, nicht selbst eine Zeit der Verirrung sei, 
nach deren Ablauf in eine mit Unrecht verlassene Bahn wieder werde 
eingelenkt werden. Einzelne Handlungsweisen und Einrichtungen des 
Mittelalters, über welche man hinausgelangt zu sein sich freuen darf, 
beweisen für die der Benennung Mittelalter zu Grunde liegende Ansicht 
eben so wenig, als die unbestreitbaren Vortheile, die der Menschheit seit¬ 
dem zu Theil geworden sind. In jeder Zeit hat Gottes Hand die Mensch¬ 
heit geführt und die den Menschen gelassene Freiheit in ihrem Thun 
Unregelmäßigkeiten verursacht. Für alles Einzelne zu bestimmen, in 
welcher Beziehung es zu dem göttlichen Plane stehe, wäre erst dann 
möglich, wenn Maß und Verhältnis wonach Gnade und Freiheit Zu¬ 
sammenwirken, gefunden wäre. Die Wissenschaft der Geschichte hat 
Mittel zur Annäherung an die Beantwortung der höchsten Fragen zu 
suchen, aber keine Endurtheile in diesem Gebiete zu fällen, die nur der 
vollkommenen, nicht der gebrochenen Erkenntniß möglich sind. Es ist 
auch nicht zu begreifen, in welchem Sinne bis zu Ende des weströmi¬ 
schen Reiches die Menschheit auf einem Pfade gewandelt sei, den sie, 
durch Einbruch der Germanen gestört, verlassen habe, um ihn nach tau¬ 
send Jahren wieder zu finden. Es gehört diese Meinung der Bewun¬ 
derung an, welche man den im fünfzehnten Jahrhundert aus der Ver¬ 
gessenheit hervorgezogenen Denkmälern der redenden und bildenden Kunst 
des Alterthums zollte. Im Bewußtsein des Werthes, den sie als 
Muster für verwandte Thätigkeit haben, ging man zu der Zeit, da die 
Gebildeten sich der Kirche und der von ihr gepflegten Wissenschaft ab¬ 
wandten, so weit, daß man eine Erneuerung des von jenen Denkmälern 
bezeugten Sinnes, ja eine Rückkehr zu den Verhältnissen, unter welchen 
sie entstanden seien, als die Bedingung wahrer Bildung ansah. Dieser 
Auffassung wurde Vorschub geleistet durch die übrigen um jene Zeit 
eingetretenen für Geistesbildung förderlichen Ereignisse. Da jüngst auch 
die Mittel, das Erdachte und Entdeckte nach allen Seiten rasch bekannt 
zu machen, gefunden waren und die Wissenschaften der Erfahrung, durch 
die Aussicht in Meeresferne und Himmelsferne gereizt, in unerhörter 
Eile vorwärts schritten und lang gehegte Meinungen siegreich zerstreuten, 
glaubte man in ein Reich höherer und weiterer Erkenntniß raschen 
Schrittes eingetreten zu sein. Daß man dadurch dem alten Griechen¬ 
thum und Römerthum sich genähert, meinten diejenigen, welche es den 
barbarischen Germanen, den Begründern der neuen Weltordnung, vor¬ 
warfen, daß sie den Geist durch eine allgemeine Roth und Verwirrung 
in seinem Forschnngstrieb gelähmt hätten. Ihnen mußten diejenigen
	        
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