X. §. 1. Eigenthümllchkelt des Grlechenvolks.
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als ein erquickender und tröstender Stützpunkt für ihren Glauben und
ihre Hoffnungen zu dienen; und endlich sich selber zu einem würdigen
Gefäß zu bereiten, in welchem die Herrlichkeit des eingebornen Sohnes
vom Vater voller Gnade und Wahrheit zur rechten Zeit erscheinen und
Wohnung machen könnte. Bis diese Zeit aber herankam, mußte
auch in dem Weltreich noch eine bedeutende Veränderung geschehen.
Denn nicht die Form und Weise des orientalischen Lebens war
die geeignetste Schale, in welche die köstliche Narde der Offenbarungen
gefüllt werden sollte. Sondern das Abendland, zunächst das Grie¬
chenthum mußte in den Orient hineingezogen werden, um als der
geeignete Träger und Verbreiter des Evangeliums bereit zu stehen, sobald
das süße Freudenwort die Fesseln der jüdischen Gesetzlichkeit zerspren¬
gen und den freien Gnadenstrom in die Heidenwelt ergießen sollte.
X. Die Griechen, das Volk der Schönheit, Wissenschaft
und Kunst. Entwickelung des griechischen Lebens bis zur
ersten Berührung mit dem Weltreich und dem Gottesreich.
Motto: Ihr Ruhm erscholl unter die Heiden ihrer Schöm
heit halber.
»Der Sünder Schönheit wird verzehret wie von
Motten.»
§. 1. Eigenthümlichkeit des Griechenvolks.
Wie weit es der sich selbst überlassene Mensch des heidnischen
Alterthums in der mechanischen Weisheit und Kunstfertigkeit
bringen könnte, hatte der Herr an dem ägyptischen Volk dargestellt;
wie weit er gelangen könnte in der Pflege der materiellen, kauf¬
männischen und gewerblichen Unternehmungen, sollten wir an
den Cananitern (Phöniziern) sehen. Bis zu welchem Grade
die massenhafte Häufung der Machtmittel und des schwelgerischen
Lebensgenusses fortgeführt werden könnte, erkannten wir an dem
großen orientalischen Weltreich. Jetzt treten wir einen Augen¬
blick von dem Boden und Schauplatz der heiligen Geschichte ab,
um ein Heidenvolk unter der unerkannten Leitung Gottes sich heran¬
bilden zu sehen, welches die geistigen und sittlichen Fähigkeiten des
natürlichen Menschengeistes bis zu dem höchstmöglichen Grade der
Vollkommenheit entwickeln und uns die heidnische Cultur in ihrer
schönsten und verlockendsten Entfaltung vorführen soll, schöner, hinrei¬
ßender, als es je einem andern (heidnischen oder christlichen) Volk ge¬
lungen ist. Denn mit wunderbar reichen GeisteSgaben, Anlagen und
Fähigkeiten hatte der Herr das griechische Volk ausgestattet, und
hatte siessin ein Land gesetzt, welches ganz dazu gemacht war, auch
die geringsten Geisteöblüthen seiner Bewohner zur reichsten Entfal-
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