XXL §. 1. Verbreitung neuer kirchlicher Grundsätze. ggg
soeben wieder geheilt bekommen hat (als das zu Grunde gegangene
römische Kaiserthum wieder herg-estellt ist), da steigt auS der Erde, d. h.
aus dem nun schon fest begründeten Staatenverband ein anderes, klei¬
neres Thier, welches zwei Hörner hat, wie das Lamm Christus, aber
es redet wie der Drache; also ein Wolf in Schafskleidern. Es wird
uns eine Weltmacht in geistlichem Gewände vor die Augen geführt,
die sich alsbald als recht irdische, ja als widergöttliche Weltmacht
geberden lernt und die Anbetung der Menschen nicht auf den Herrn
und Heiland, sondern auf die irdische Macht, auf den Glanz und die
Hoheit des Weltreichs hinlenkt. Als faßbarer Gegenstand der An¬
betung wird ein lebendiges Bild der Weltherrschaft ausgestellt, näm¬
lich der mit der dreifachen Krone geschmückte Herrscher auf dem Stuhle
zu Rom, der zugleich die Orakel ertheilt, bei dem die letzte Entschei¬
dung ist in Glaubens- und Gewissenssachen und der alle seine Anhänger
in ehernen Banden der Knechtschaft hält. Das Schicksal dieser geist¬
lichen Weltmacht, welche wiederholt auch „der falsche Prophet" ge¬
nannt wird, ist zu lesen Offenb. 19, 20. So wenig verkannt werden
soll, daß durch die Barmherzigkeit Gottes auch das dämonische Papst¬
unwesen und die ganze römische Hierarchie dennoch nach vielen Sei¬
ten hin den Völkern hat noch einen Segen bringen, sogar schließlich
noch zur Förderung des Reiches Gottes hat beitragen müssen, so wenig
dürfen wir als Protestanten unsere Augen dagegen verschließen, daß
die römische Papstkirche, wie sie aus der Sünde geboren, so auch durch
das Wort Gottes gerichtet ist.
Die nun beginnende Aenderung in den kirchlichen Grundsätzen und
in der Stellung der Staaten und der Kirche zu einander ist keineswegs
das Werk eines einzelnen Mannes, sondern sie ist das Ergebniß einer
lange vorbereiteten Zeitrichtung, die schon öfters an einzelnen Punkten
der frühern Geschichte zu Tage getreten war, die aber jetzt unter einer
Reihe zusammenwirkender günstiger Umstände sich wirklich durchkäinpft
und Gestalt und Wesen gewinnt. Der Einzelne, welcher diese kirchliche
Richtung in sich aufnimmt und sie fördert, ist eben ein Kind seiner Zeit
und muß als solches beurtheilt werden. Man sieht gewöhnlich den
Mönch Hildebrand, der als Papst sich Gregor VII. nannte, als
den Vater und Urheber der jetzt nüt Gewalt sich bahnmachenden neuen
Grundsätze an. Allein auch er war nur ein einzelnes, wenn auch das
hervorragendste, Glied in der langen Reihe von Kirchenmännern, die
alle von- demselben Grundgedanken ausgehend nach derselben Richtung
steuern. Hildebrand, als der sich am tiefsten und vollkommensten
mit der Idee einer kirchlichen Gottesherrschaft auf Erden erfüllt hatte,
hat nur das Verdienst, daß er in der entschlossenen Folgerichtigkeit
seines ganzen Wesens allen seinen Freunden als Stütze und Mittelpunkt,