Herman Grimm.
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i^apdaels Sixtinische Maäonna.
Hat Raphael in der Madonna della Sedia das Irdische zur
höchsten Reinheit erhoben, so scheint er bei der Sistina den Versuch
zu machen, das Göttliche in irdische Gestalt zu bringen. Jeder
empfindet vor dem Gemälde, daß eine solche Frau nur auf dem
Gewölk wandle. Diese Madonna auch ist die einzige von allen
Madonnen Raphaels, die, in Sempers schönem Dresdener Museum,
völlig ihrer Würde entsprechend aufgestellt worden ist.
Maria kommt auf einer in der Ferne sich verlierenden, aus
weißen Wolken bestehenden Straße heran. Sie berührt sie nicht und
scheint doch darauf hinznschreiten. Raphael hat gemalt, was nicht 10
darstellbar scheint: ein Schweben und Gehen zugleich auf einem Wege,
der nicht fest und doch eine Straße ist. Daß Maria von der Luft
getragen werde, deutet der sie in sanfter Rundung umgebende, auf¬
geblähte Schleier an: die Form des Gewölkes unter ihr aber hat
etwas Straßenmäßiges, hergestellt für Maria, damit sie es mit den
Füßen berühre. Er machte die Gewandung der Madonna zu etwas
so Unscheinbarem, daß neben dem prachtvollen Auftreten der beiden
Heiligen zu ihrer Rechten und Linken ihre einfache Umhüllung gar
nicht bemerkt wird. Die Stoffe nämlich, aus beiten Kleid und Schleier
der Sixtinischen Madonna bestehen, sind nicht erkennbar. Sie ist wie 20
von einer Hülle umgeben, die keine Laune menschlichen Gewand¬
wechsels zuläßt. Was wir vor Augen haben, sind ihr Antlitz, die
Hände, die unbekleideten Füße: das Kleid kommt nicht in Betracht.
Den Eindruck über das Zufällige erhabener stiller Majestät hat
Raphael dadurch gesteigert, daß er zu beiben Seiten Marias zwei
Heilige hingestellt hat, die er mit allem Reichtum weltlicher Pracht aus-