61
Sein Reich erstreckte sich von dein Ebro im Westen bis zu
der Theiß in Ungarn und der Oder, von dem Kanal der Nord¬
see, der Eider, der Ostsee im Norden bis zum Mittelmeer und
der Tiber im Süden, umfaßte also einen Theil von Spanien,
ganz Frankreich, die Niederlande, Deutschland, die Schweiz, halb
Italien und einen Strich von Ungarn.
Mit Zustimmung der Großen theilte er das Reich unter seine
3 Söhne: Karl, Pipin unb Ludwig. Schon 810 starb Pi-
Pin, und sein Bruder Karl folgte ihm 811 im Tode nach. Nur
Ludwig, der weniger als seine Brüder zum Herrscher geeignet
war, überlebte den Vater. Karl's sonst so kräftiger Körper wurde
durch diese Schicksale hart angegriffen, und selbst Aachens warme
Quellen hatten nicht mehr die gewünschte Wirkung. Im Ge¬
fühle des nahen Todes machte er sein Testament und erwartete
dann mit großer Seelenruhe seine Auflösung. Seinen Sohn
Ludwig ernannte er zum Mitregenten und zu seinem Nach¬
folger in der Kaiserwürde. Nachdem die angesehensten Großen
des Reichs seine Anordnung gebilligt hatten, begab er sich in
die Marienkirche, wohin ihm Ludwig lind die Versammlung der
Großen, geistlichen und weltlichen Staildes, folgten. Hier knie'te
er mit seinem Sohne vor deiil Hauptaltare, auf welchem eine
goldene Krone lag, iil stillein, iirbrüilstigem Gebete. Darauf er¬
hob er sich, legte feinem Sohne die heiligen Pflichten eines Re-
genten an's Herz und ermahnte ihn insbesondere, Gott zu fürch-
teu, seine Schwestern und die übrigen Verwandten zu lieben, die
Armen zu uilterstützen uild seinem Volke stets mit dem Beispiele
eines tllgeildhafteil Wandels voranzuleuchten. »Willst Du, mein
Sohu«, fragte er bann, »alle diese Pflichten treu nnb gewissen¬
haft erfüllen?« — »Ja! mit Gottes Hilfe,« antwortete Ludwig.
»Wohlan denn,« fuhr Karl fort, »nimm die Krone, setze Dir sie
selbst auf's Haupt und stets möge sie Dich an Deine Versprechun¬
gen erinnern!«
Nicht lange nachher warf ein heftiges, mit Seitenstechen ver¬
bundenes Fieber den Kaiser auf's Krankenlager, von dem er nicht
wieder aufkommen sollte. Mit sterbender Hand machte er auf
Stirn und Brust das Zeichen des Kreuzes, faltete seine Hände
über der Brust, schloß die Augen und sang mit leiser Stimme: