Full text: Lesestoff der sechsten Klasse (Untersekunda) (Teil 1, [Schülerband])

99 
den einen hast du schon getötet, den göttergleichen Polydorus u. s. w. Hierauf 
antwortet Achilles seinerseits ausführlich in fast ebenso langer Rede, worin 
er den Tod des Patroklus anführt, und nun erfolgt die Tötung, deren nähere 
Umstände genau angegeben werden. 
Solche Beispiele des wahrhaft epischen Tones ließen sich aus Homer 110 
unzählige anführen. Der Dichter folgt aber in der Reihe der Zeitmomente 
nur dem Gesetz poetischer Anschaulichkeit, und wenn er manchmal das Aus¬ 
gedehnte zusammenfaßt, so entfaltet er meistens das, was sich in der Wirklich¬ 
keit zusammendrängt, z. B. wenn sich eine spannende Lage, ein heftiges 
Gefühl in unserer Brust oft nur in einem kurzen Ausruf oder in einem 115 
einzigen Wort Luft macht, zu voller Darlegung des darin liegenden mannig¬ 
faltigen Gehaltes. 
Der epische Dichter gleicht darin ganz dem bildenden Künstler; auch 
dieser hält einen im Zeitflusse vorübergehenden Moment fest und stellt ihn 
mit festen und vollen Marmorumrissen vor unsere Anschauung, so daß wir 120 
seinen ganzen Inhalt entfaltet und bleibend vor uns haben. Daher nun auch 
die Neigung des epischen Dichters zu Episoden. Im Drama duldet die Angst 
der Erwartung kein Abspringen, es folgt immer in strenger Linie Schlag 
auf Schlag dem Endziele zu, aber das Epos ist der wahre Boden der mannig¬ 
faltigsten Episoden. Der Dichter wie der Zuhörer folgen in ihrem inneren 125 
Frieden jedem Zuge der sich darbietenden Gelegenheit; wo ein Seitenpfad 
sich öffnet, wird er harmlos betreten. 
Homer macht nichts parteiisch, weil er das Recht eines jeden Dinges 
kennt und bereit ist es ihm zu geben. Seine Darstellung will weder loben 
noch tadeln, sondern nur sich selbst genugtun. Ganze Gesänge der Ilias, 130 
kann man sagen, sind nur Episoden, so der sehr schöne fünfte, der von der 
Tapferkeit und den Taten des Diomedes handelt; in den Gesängen aber 
sind die unzähligen kleineren Digressionen wieder sozusagen für sich bestehende 
Epen int kleinen, Teilgebilde, die ein eigentümliches Leben führen und nur 
locker unb lose mit dem Hauptgange zusammenhängen; polypenartig wächst 136 
Epos aus Epos hervor. Jeder Punkt in dem großen Gebilde ist für sich 
belebt, jeder Satz hat seine eigene Seele und ist um seiner selbst willen da 
und daher auch die lose Wort- und Satzverknüpfung überhaupt, die bis in 
die kleinste Form von dem epischen Prinzip durchdrungen ist. 
Auch die häufigen ausgeführten Gleichnisse, die alle epischen Dichterin 
dem Homer nachgebildet haben, sind von diesem Geiste ruhigen Verweilens 
bei Nebenvorstellungen eingegeben; indem dem Dichter bei irgend einer 
Situation eine ähnliche aus einem anderen Gebiete einfällt, verweilt er bei 
dieser zweiten, die unter der Hand zu einem eigenen Ganzen wird und ein 
selbständiges Interesse gewinnt, was sich auch in dem Übergänge aus dem 145
	        
Waiting...

Note to user

Dear user,

In response to current developments in the web technology used by the Goobi viewer, the software no longer supports your browser.

Please use one of the following browsers to display this page correctly.

Thank you.