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den einen hast du schon getötet, den göttergleichen Polydorus u. s. w. Hierauf
antwortet Achilles seinerseits ausführlich in fast ebenso langer Rede, worin
er den Tod des Patroklus anführt, und nun erfolgt die Tötung, deren nähere
Umstände genau angegeben werden.
Solche Beispiele des wahrhaft epischen Tones ließen sich aus Homer 110
unzählige anführen. Der Dichter folgt aber in der Reihe der Zeitmomente
nur dem Gesetz poetischer Anschaulichkeit, und wenn er manchmal das Aus¬
gedehnte zusammenfaßt, so entfaltet er meistens das, was sich in der Wirklich¬
keit zusammendrängt, z. B. wenn sich eine spannende Lage, ein heftiges
Gefühl in unserer Brust oft nur in einem kurzen Ausruf oder in einem 115
einzigen Wort Luft macht, zu voller Darlegung des darin liegenden mannig¬
faltigen Gehaltes.
Der epische Dichter gleicht darin ganz dem bildenden Künstler; auch
dieser hält einen im Zeitflusse vorübergehenden Moment fest und stellt ihn
mit festen und vollen Marmorumrissen vor unsere Anschauung, so daß wir 120
seinen ganzen Inhalt entfaltet und bleibend vor uns haben. Daher nun auch
die Neigung des epischen Dichters zu Episoden. Im Drama duldet die Angst
der Erwartung kein Abspringen, es folgt immer in strenger Linie Schlag
auf Schlag dem Endziele zu, aber das Epos ist der wahre Boden der mannig¬
faltigsten Episoden. Der Dichter wie der Zuhörer folgen in ihrem inneren 125
Frieden jedem Zuge der sich darbietenden Gelegenheit; wo ein Seitenpfad
sich öffnet, wird er harmlos betreten.
Homer macht nichts parteiisch, weil er das Recht eines jeden Dinges
kennt und bereit ist es ihm zu geben. Seine Darstellung will weder loben
noch tadeln, sondern nur sich selbst genugtun. Ganze Gesänge der Ilias, 130
kann man sagen, sind nur Episoden, so der sehr schöne fünfte, der von der
Tapferkeit und den Taten des Diomedes handelt; in den Gesängen aber
sind die unzähligen kleineren Digressionen wieder sozusagen für sich bestehende
Epen int kleinen, Teilgebilde, die ein eigentümliches Leben führen und nur
locker unb lose mit dem Hauptgange zusammenhängen; polypenartig wächst 136
Epos aus Epos hervor. Jeder Punkt in dem großen Gebilde ist für sich
belebt, jeder Satz hat seine eigene Seele und ist um seiner selbst willen da
und daher auch die lose Wort- und Satzverknüpfung überhaupt, die bis in
die kleinste Form von dem epischen Prinzip durchdrungen ist.
Auch die häufigen ausgeführten Gleichnisse, die alle epischen Dichterin
dem Homer nachgebildet haben, sind von diesem Geiste ruhigen Verweilens
bei Nebenvorstellungen eingegeben; indem dem Dichter bei irgend einer
Situation eine ähnliche aus einem anderen Gebiete einfällt, verweilt er bei
dieser zweiten, die unter der Hand zu einem eigenen Ganzen wird und ein
selbständiges Interesse gewinnt, was sich auch in dem Übergänge aus dem 145