Full text: Lehrbuch der Geschichte des preußischen Staates für Schulen und den Selbstunterricht

inmitten der Gärung und Umwälzung auch auf dem Gebiete des geistigen 
und sozialen Lebens der Völker. Aber jene große Bewegung zeigt, 
daß inmitten des Wandels der Dinge Vergehen und Werden eng ver¬ 
bunden sind, wie die Knospenhülle gesprengt wird und zerfällt, wenn 
die Blume sich entfaltet und die Frucht sich bildet. Die nationale Ent¬ 
wicklung ward durch das Christentum zunächst gehemmt, viele Keime 
wurden somit zerstört, aber die Einflüsse griechisch-römischer Bildung 
und christlicher Gesittung brachten auch wiederum die tiefsten Keime 
germanischer Innerlichkeit zur Reife. Welch grandiose Tat bedeutet 
die Schöpfung der gotischen Schriftsprache durch Ulfilas. Und mit wie 
wunderbaren Zungen redet diese, aus tausendjährigem Schlummer wieder 
erweckt, zu uns und öffnet uns das eigentliche innerste Verständnis 
unserer eigenen Sprache. 
Das Althochdeutsche steht an Wohlklang, an sinnlicher Frische, an 
Reinheit der Vokale, an Mannigfaltigkeit der Wortbildungen dem 
Gotischen am nächsten. Und wie jedes Wort einer Sprache ursprünglich 
sinnlich, ein Lautbild ist, wie im Sinnlichen die Begriffe schlummern, 
um allmählich zu erwachen, wie also alle Bezeichnungen des Geistigen 
aus der Anschauung stammen, so verrät eine junge, knospende Sprache 
— wie das Deutsche in der Epoche des Althochdeutschen — am deut¬ 
lichsten diesen Werdegang vom Konkreten zum Abstrakten. Ja, die 
rein abstrakten Begriffe fehlen noch fast ganz. Die Wörter tragen 
noch das Sinnliche des ersten Eindrucks an sich, der sie aus der Seele 
gelockt hat. Da bedeutet „Grund" nicht etwa Ursache, sondern nur 
Boden; „Ursache" noch nicht die schöpferische Vorbedingung einer Wir¬ 
kung, sondern die Veranlassung zu einem Streithandel; auch „Ursprung" 
bezeichnet nur den Quell, der aus der Erde springt; bei dem Worte 
„Geist" empfand die Phantasie noch den wehenden Lufthauch, und 
bei dem Worte „Seele" sah der Deutsche noch das rastlose Wogen der 
bewegten See vor sich, die er der unablässig arbeitenden Gewalt seines 
Innern verglich. Jeder Gedanke, den er aussprechen wollte, trat in 
ein Bild gehüllt vor seine Seele. Die für alle Zeiten geltende Wahr¬ 
heit drückte er aus wie einen Vorgang, den er aus der Vergangenheit 
berichtete; so entstand der Spruch, das Sprichwort; sprach er in ge¬ 
steigerter Stimmung, frei schaffend, so ordnete sich ihm die Rede un¬ 
willkürlich in kleine parallele Satzglieder, von denen sich leicht je zwei 
zu einem Verse zusammenbanden. Es lag im Wesen seiner Sprache, 
besonders kräftig den anlautenden Buchstaben der Stammwörter hervor-
	        
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