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das Herz erheben, in denen du große Menschen und große
Schicksale siehst und in einer höheren Welt lebst; wende
dich ab von denen, welche die verächtliche und niedrige
Seite gemeiner Verhältnisse und gesunkener Zeiten dar¬
stellen. — Lies sie (hervorragende Werke) nicht, um ästhe¬
tische Reflexionen über sie zu machen, sondern um dich
in sie hineinzulesen und deine Seele mit ihren Gedanken zu
erfüllen, um durch die Lektüre zu gewinnen, wie du durch
das ehrerbietige Zuhören bei der Rede großer Männer ge¬
winnen würdest.“ Das sind goldene Worte.
Was heißt nun lesen? Es bedeutet: die Gedanken
eines Buches recht erfassen und würdigen, indem man sie
durchdringt, die Eindrücke zu einem Ganzen in sich ordnen
und eigene Gedanken daraus gewinnen. Richtiges Lesen
soll uns über den Buchstaben stellen 1), nicht unter ihn.
„Jedes Buch nach seinen Gedanken zu schätzen, die
echten von den unechten zu unterscheiden, den Mangel an
Gedanken zu erkennen, die vorhandenen vollauf zu würdi¬
gen, in die Tiefe solcher Gedanken einzudringen, alle Teile
der Darstellung zu einem Ganzen zusammenzuschauen,
eigene Gedanken daraus zu gewinnen -— das ist die Kunst
der Lektüre“2) (Jung). Laß vor allem den Geist der
Lektüre auf dich wirken und frage nicht ängstlich, ob sie
dir auch greifbare Kenntnisse einbringe oder eingebracht.
Nur auf die geistige Bereicherung, auf Erweiterung des Ge¬
sichtskreises kommt es an. Auch das Anschauen eines
Kunstwerkes, etwa eines Gemäldes, bildet und veredelt,
x) „Lasse dich deine Lektüre nicht beherrschen, sondern
herrsche über sie“ (Lichtenberg).
2) In ähnlicher Weise urteilt Schönbach: „Die Kunst
des Lesens besteht darin, daß man aus jedem Buche holt, was
es enthält, sich der Gedanken wirklich bemächtigt, die darin
vorgetragen werden, Hauptsache und Nebendinge unterscheidet,
die Beziehung zwischen Inhalt und Form versteht, endlich sich
selbst dazu stellt und das Neue sich geschickt aneignet.“