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die Armen und hat eine offene Hand für sie. — Für den Kaiser
ist die Familie die unentbehrliche Grundlage des Lebens und
des Glückes, sein deutsches Haus die Heimstätte des Friedens
und der Liebe, die Pflegstätte deutschen Geistes und deutschen
Gemütes." Die Kaiserin wurde am 22. Oktober 1858 geboren,
einfach und fromm auf einem ländlichen Schlosse ihres Vaters
erzogen. Schon als Kind und als junge Prinzessin gewann sie
alle Herzen durch ihre Anmut und Güte. Als sie zu ihrer Kon¬
firmation fuhr, sah das arme Kind eines kranken Webers zu
ihr auf und seufzte: „Ach, wenn ich doch eine Prinzessin wäre,
dann wollte ich wohl für meine armen Eltern und Geschwister
sorgen!" Der Prinzessin erzählte dies ihr Zeichenlehrer, der es
gehört hatte. Sogleich ging sie hin in die Hütte der Armen
und hals ihnen aus ihrer Not. Wie vielen hat sie so Gutes
erwiesen! Und was sie als Prinzessin gelernt hat, das übt sie
nun als Kaiserin. Alle Werke der christlichen Liebe fördert, die
Notleidenden unterstützt und die Unglücklichen tröstet sie. Als
sie hörte, daß der Witwe eines armen Zimmermanns alles ver¬
kauft sei, da kaufte sie es zurück und beschenkte die Unglückliche
damit. So fühlt und handelt sie als rechte Landesmutter. Dem
Kaiser, ihrem Gemahl, hat sie sechs blühende Söhne und eine
liebliche Tochter geschenkt. Als der älteste Sohn, Kronprinz
Wilhelm, am 6. Mai 1882 geboren wurde, da rief der greise
Urgroßvater Kaiser Wilhelm I. bei der Nachricht aus: „Hurra,
vier Kaiser!" Die kaiserlichen Prinzen wurden einfach und streng
wie Bürgerkinder erzogen. Besonders gern spielten sie Soldaten.
Der Kronprinz war dann ihr Hauptmann, dem sie willig ge¬
horchten. Kam der Kaiser in die Stube, dann standen sie stramm
wie rechte Soldaten und warteten, bis der Kaiser sie soldatisch,
d. h. mit den Fingern an der Mütze grüßte. Auch die hohen-
zollernschen Tugenden des Fleißes und der Sparsamkeit lernten
und übten sie. So hatten sie Kastanien und Eicheln aufgelesen
und an die Wildwärter verkauft, um ihrem Vater aus dem Erlöse
ein Geburtstagsgeschenk zu kaufen und ihn damit zu erfreuen.
Den Schulunterricht erhielt der Kronprinz mit den beiden älteren
der nach ihm kommenden Brüder Eitel-Friedrich und Adalbert
von bewährten Lehrern auf dem Schlosse zu Ploen in der so¬
genannten holsteinischen Schweiz. Friedrich Polack.
Pa ldaiuus-Rehorn, Lesebuch. Ausg. E. Teil 3.
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