Full text: Lehrbuch der allgemeinen Weltgeschichte für höhere Bildungsanstalten und Gymnasien

2 Einleitung, 
auf einander- folgten. Die Darstellung selbst ist entweder ethno¬ 
graphisch, wo die Schicksale jedes einzelnen Volkes vom Anfang 
bis zu Ende vorgetragen werden, oder synchronistisch, wenn 
die Volker gleichzeitig, nach ihrem Wirken und Streben, neben 
einander erscheinen. 
Dunkel und schwankend ist der Anfang der Geschichte eines 
jeden Volkes, weil sie eben aus der Sage hervorgeht, die durch 
Zusatz oder Hinweglassung der weiter Erzählenden ihre Gestalt und 
Farbe oft wechselt und ändert. In der schwebenden Ungewißheit 
aber herrscht die Phantasie am freiesten, darum beginnen fast alle 
Völkergeschichten mit der dichterischen Schilderung eines goldenen 
Zeitalters. Was das sehnende Herz sich ersinnen mag, und 
bei fortgerücktem Alter in der Vergangenheit sucht, in der Jugend 
von der Zukunft erwartet, das stellten die Dichter in jenen Bildern 
goldener Tage, die vorüber sind, zusammen. Unschuld, fleckenlose 
Sittenreinheit, harmlose Einfalt bereiteten den Menschen einen un¬ 
gestörten Frieden. Die Natur, ewig jung und ewig blühend, spende¬ 
te im Ueberfluß und freiwillig, was die Sinne vergnügt, und das 
Bedürfnis erheischt. 
In vierfacher Stufenfolge erscheint der Mensch bei seinen 
allmaligen Entwickelungsperioden. Ein freier Sohn der Natur, 
erringt er zuerst die tägliche Nahrung entweder durch die Jagd 
oder durch den Fischfang. Das Band der Geselligkeit fesselt 
ihn noch nicht an seines Gleichen, denn ein Nachbar würde 
ihm ja seinen Fang schmälern; unstät durchschwarmt er Feld und 
Wald, schwimmt über Ströme, segelt mit seinem Nachen dm 
Küsten entlang, duldet oft die grausamsten Entbehrungen und steht 
in Lebensweise, so wie an geistiger Entwickelung, nur wenig über 
den vierfüßigen Bewohnern der Erde oder dem Adler, der sich aus 
den Lüsten auf seinen Raub hernieder stürzt. Von dem Menschen, so lan¬ 
ge er als Jager und Fischer heimathlos und einzeln von Ort zu Ort 
schweift, hat die Geschichte noch nichts zu berichten, denn, in traurigem 
Einerlei verfließt ihm ein Tag und ein Jahreskreis wie der andere 
bis ans Ende seines mühevollen Lebens. 
Ein weniger peinliches Loos gewahrt schon die zweite Bil¬ 
dungsstufe dem Menschen. Er hat Thiere gezähmt, nützliche 
Heerden um sich gesammelt, seinen Unterhalt durch deren Milch 
und Fleisch, seine Bekleidung durch ihre Wolle oder ihre Felle ge¬ 
sichert. Ein Familienleben findet nun statt; zahlreiche Söhne, 
Töchter, nebst ihren Gatten, Gattinnen und Kindern reihen sich um 
das Familienhaupt; der Stammvater ist ihr Gebieter, Priester und 
König; das patriarchalische Hirten leben tragt den Keim 
einer rein menschlichen Entwickelung der Geisteskräfte in sich. 
Sorgfalt, Ordnung, weiser Rath, kluge Berathung, selbst Muth 
und Entschlossenheit werben abwechselnd nöthig den vergrößerten 
Haushalt zu lenken, zu bewahren und zu sichern. Doch die Mit-
	        
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