Full text: Lehrbuch der allgemeinen Weltgeschichte für höhere Bildungsanstalten und Gymnasien

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A. 
Erzählende Prosa. 
I. Sagen. 
230. Die nordischen und die deutschen Götter. 
Nach Karl Simrock. Deutsche Mythologie. Bonn, 1864. Die Edda. Stuttgart, 1888, und Felix Dahn. 
WallhaU. Germanische Götter- und Heldensagen. Kreuznach, 1889. 
a. Die Überlieferung der uralten Sage durch die Edda. 
Daß die Götter des Nordens auch die unseren waren, daß beide Bruder¬ 
stämme, der deutsche und der nordische, wie Sprache, Recht und Sitte, so auch den 
Glauben im wesentlichen gemein hatten, daß Odin Wodan ist und Thorr Donar, 
baß Äsen und Ansen, Alfen und Elben, Sigurd und Sigfrid nur andere Formen 
derselben mythischen Namen sind, darüber bleibt, uns längst kein Zweifel. 
In Deutschland war der Eifer der christlichen Priester im Mittelalter mit 
Erfolg bemüht, das Heidentum bis auf die letzten Spuren in der Erinnerung 
des Volkes zu tilgen. Ein glücklicherer Stern hat im Norden über der Kunde 
vom Glauben unserer Väter gewaltet. In Island, dem abgelegensten Winkel der 
Erde, blieb er gleich den Gluten des Hekla unter Schnee und Eis der Gletscher 
geborgen. Wollen die Deutschen nun ihre ursprünglichen Götter kennen lernen, 
so müssen sie nach diesem äußersten Thule wandern und die Früchte kosten, die 
unter dem starrsten aller Himmel gereift sind. Denn als um das Ende des 
zehnten Jahrhunderts auch in Island das Christentum eingeführt wurde, blieb 
die Insel durch ihre Armut und Entlegenheit vor übermächtigen Einflüssen des 
ausländischen Geistes bewahrt. Die Priester waren Eingeborene, zwar im Aus¬ 
lande in der neuen Glaubenslehre und in der Kunst des Schreibens unterrichtet, 
boch der Liebe zu ihrem einsamen Vaterlande, seiner Sprache, seinen Sitten und 
Eigentümlichkeiten nicht entwöhnt. So entstanden dort im 12. und 13. Jahr¬ 
hundert Aufzeichnungen und Sammlungen alter Götter- und Heldenlieder, die 
ältere und die jüngere Edda. Der Name stellt die Überlieferung unter dem 
Bilde einer den Enkeln erzählenden „Urgroßmutter" vor. Anstatt des Endreimes, 
der auf dem Gleichklang der Auslaute der Reimsilbe beruht, zeigen die Lieder den 
Stabreim, den Gleichklang des Anlautes betonter Silben. Die reimenden Anfangs¬ 
buchstaben heißen Stäbe, deren gewöhnlich drei zu einem Reim in jeder Zeile 
gehören, zwei in der ersten Vershälfte; alle Vokale gelten als Gleichlaute, so daß 
einer für den anderen eintritt, z. B. 
Einst war das Alter, da Anilr lebte — 
Ich will Walvaters Wirken künden — 
Am starken Stamm im Staub der Erde — 
Mit Schwertschlügen den Schatz erwerben. 
b. Die Götter und die Riesen. 
Die Erzählung der Edda nun geht von einer Zeit ans, da noch nichts war 
als ein öder, leerer Raum, Ginnungagap (Gaffen der Gähnungen). Die un¬ 
geheuere Kluft dieses Abgrundes mußte erst ausgefüllt werden, ehe die Welt ent-
	        
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