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§. 122.
Tie ältesten Völker Italiens. — a. Die Italiker.
3) Soweit unsere Kunde über die geschichtliche Entwickelung
der italischen Halbinsel hinaufreicht und die ersten Anfänge
einer Civilisation daselbst verfolgen kann, war jene bereits von
Völkerschaften verschiedener Abkunft bewohnt, lieber ihre Ab¬
stammung und die nähere oder entferntere Verwandtschaft der
einzelnen zu einander geben uns die überlieferten vielen Völker¬
namen und wirren Sagen wenig Aufschluß. Dagegen hat die
sprachgeschichtliche Forschung ein überraschendes Licht über das
dunkle Völkergebiet des alten Italiens verbreitet und uns in
den Stand gesetzt, nach den Ueberresten der einheimischen Spra¬
chen auch die Verwandtschaft oder Verschiedenheit der altitalischen
Stämme und Völker zu erkennen und in Gruppen zu ordnen.
Nach der Sprachforschung haben wir drei Hauptstämme zu unter¬
scheiden: einen italischen (im engern Sinne), etruskischen
und keltischen.
A. 2) Einen selbstständigen italischen Stamm bildeten
die einander ganz nahe verwandten Völkerschaften im Mittlern
Italien, die mit Recht unter dem Gesammtnamen Italiker be¬
griffen werden, da an sie die nationale Entwickelung Italiens sich
anknüpft, auch die staatliche Einheit der Halbinsel von ihnen aus¬
gegangen ist. Die Italiker bilden mit ihren nächsten Stamm¬
verwandten, den Griechen, einen besondern Zweig der großen
arischen oder indogermanischen Völkerfamilie, wie dies die
Analyse ihrer Sprachen, die Grundelemente ihrer ältesten Reli-
gions- und Rechtsanschauungen außer Zweifel setzen. H Wann
und wie die Scheidung der beiden Bruderstämme dieses graeco-
italischen Zweiges der Arier, und ihre Einwanderung in die
historische Heimath, die griechische und italische Halbinsel,
erfolgte, liegt außerhalb aller Geschichte, und ist nicht einmal in
der Sage angedeutet. Beide aber, Hellenen und Italiker,
sind unter dem bestimmenden Einfluß der individuellen Natur¬
beschaffenheit ihrer neuen Wohnsitze zu großen Nationen mit stark
ausgeprägter Eigenthümlichkeit des Charakters und der Lebens.-
richtung erwachsen. Die Hellenen bildeten sich in der durch
Berg und Meer viel getheilten Halbinsel frühzeitig zu einer see¬
fahrenden Nation voll lebendiger vielgestaltender Beweglichkeit;
die Italiker wurden in den wasserreichen fruchtbaren Niederun¬
gen oder in den Thal- und Verglandschaften der apenninischen
Halbinsel ein vorzugsweise Ackerbau und Viehzucht treibendes
i) S. §. 25. — Vgl. Mommsen, die unteritalischen Dialecte, 1850, und
dessen römische Geschichte 2. Auflage. — Huschke, die oskischen und sa¬
beltischen Sprachdenkmäler. 1856. — Aufrecht und Kirchhofs, die
umbrischen Sprachdenkmäler. 2 Bdc. 1849.