33
thümliche Organ der Lyrik wurden, wie die ionische das Organ
der epischen Poesie. Derselbe Charakter größerer intensiver Kraft,
der sich in den vollern Lauten, den tiefern Tönen und den här¬
tern Wortformen des Dorismus ankündigt, empfahl ihn auch,
wie es scheint, in Verbindung mit seiner Alterthümlichkeit — denn
er war von der ursprünglichen Sprache Griechenlands am we¬
nigsten abgewichen — der pythagoreischen Schule, obschon ihr
Stifter ein Ionier war, indem der hohe und begeisterte Stil
dieser Schule eben so der Lyrik entsprach, wie die phantasi-
rende Physik der ionischen Weisheit der epischen Dichtkunst ver¬
wandt war.
Aber noch waren die Tugenden dieser frühern Perioden nur
eine einseitige Vortrefflichkeit. Das männliche Alter kam mit
dem Flore der attischen Zeit, und mit ihm schloß sich der Kreis
der Kunst. Hier fanden die einzelnen Strahlen der Vortrefflich¬
keit ihren Mittelpunkt. Die heitere Ausführlichkeit der ionischen
Epik und die tiefe Fülle der dorischen Lyrik trafen im Drama
zusammen, in welchem sich der epische Stoff der Zufälligkeit ent¬
ledigte, und die subjective Einseitigkeit des lyrischen Gedichtes
durch seine Vermählung mit dem dramatischen Stoff eine objec¬
tive Allgemeinheit erhielt. So wie die Poesie in dieser ihrer
höchsten Blüte, so ward in Attika alles und jedes, was in frü¬
hern Zeiten und in andern Gegenden von Griechenland begonnen
hatte, zur Vollendung gebracht. Hier trat die Prosa mit der
Verskunst in die Schranken, und erfand einen eigenthümlichen
Silbentanz, durch welcken zuerst die freie Sprache zur harmoni¬
schen Rede, und die Wohlredenheit zur Beredsamkeit ward. Hier
wurde zuerst die Kunst der Mittelpunkt aller Bestrebungen, und
wie der Altar der Vesta alle Bürger derselben Stadt, so ver¬
einigte der Altar der Kunst alle höhern Geister in jeder Art
ihrer Thätigkeit. Hier gründete die Philosophie ein würdigeres
Heiligthum, welches die Erde mit dem Himmel verband, wo die
Grazien der Ueberredung und Harmonie mit der verschwisterten
Dichtkunst, den lachenden Satyrn und dem begeisterten Eros
den flammenden Altar der Weisheit umtanzten. So erwuchs
auch auf diesem classischen Boden die Geschichte von Neuem in
einer höhern und würdigern Gestalt. Wie sich die attische Tra¬
gödie zu dem ionischen Epos verhält, so verhält sich die attische
Geschichte des Thukydides zu der ionischen Herodots. Wie das
Trauerspiel, so entsagt auch die attische Geschichte dem freien
Hiecke, Lesebuch für obere Klaffen. 4. Aufl. 3