Full text: Mittlere Geschichte (Theil 2)

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thümliche Organ der Lyrik wurden, wie die ionische das Organ 
der epischen Poesie. Derselbe Charakter größerer intensiver Kraft, 
der sich in den vollern Lauten, den tiefern Tönen und den här¬ 
tern Wortformen des Dorismus ankündigt, empfahl ihn auch, 
wie es scheint, in Verbindung mit seiner Alterthümlichkeit — denn 
er war von der ursprünglichen Sprache Griechenlands am we¬ 
nigsten abgewichen — der pythagoreischen Schule, obschon ihr 
Stifter ein Ionier war, indem der hohe und begeisterte Stil 
dieser Schule eben so der Lyrik entsprach, wie die phantasi- 
rende Physik der ionischen Weisheit der epischen Dichtkunst ver¬ 
wandt war. 
Aber noch waren die Tugenden dieser frühern Perioden nur 
eine einseitige Vortrefflichkeit. Das männliche Alter kam mit 
dem Flore der attischen Zeit, und mit ihm schloß sich der Kreis 
der Kunst. Hier fanden die einzelnen Strahlen der Vortrefflich¬ 
keit ihren Mittelpunkt. Die heitere Ausführlichkeit der ionischen 
Epik und die tiefe Fülle der dorischen Lyrik trafen im Drama 
zusammen, in welchem sich der epische Stoff der Zufälligkeit ent¬ 
ledigte, und die subjective Einseitigkeit des lyrischen Gedichtes 
durch seine Vermählung mit dem dramatischen Stoff eine objec¬ 
tive Allgemeinheit erhielt. So wie die Poesie in dieser ihrer 
höchsten Blüte, so ward in Attika alles und jedes, was in frü¬ 
hern Zeiten und in andern Gegenden von Griechenland begonnen 
hatte, zur Vollendung gebracht. Hier trat die Prosa mit der 
Verskunst in die Schranken, und erfand einen eigenthümlichen 
Silbentanz, durch welcken zuerst die freie Sprache zur harmoni¬ 
schen Rede, und die Wohlredenheit zur Beredsamkeit ward. Hier 
wurde zuerst die Kunst der Mittelpunkt aller Bestrebungen, und 
wie der Altar der Vesta alle Bürger derselben Stadt, so ver¬ 
einigte der Altar der Kunst alle höhern Geister in jeder Art 
ihrer Thätigkeit. Hier gründete die Philosophie ein würdigeres 
Heiligthum, welches die Erde mit dem Himmel verband, wo die 
Grazien der Ueberredung und Harmonie mit der verschwisterten 
Dichtkunst, den lachenden Satyrn und dem begeisterten Eros 
den flammenden Altar der Weisheit umtanzten. So erwuchs 
auch auf diesem classischen Boden die Geschichte von Neuem in 
einer höhern und würdigern Gestalt. Wie sich die attische Tra¬ 
gödie zu dem ionischen Epos verhält, so verhält sich die attische 
Geschichte des Thukydides zu der ionischen Herodots. Wie das 
Trauerspiel, so entsagt auch die attische Geschichte dem freien 
Hiecke, Lesebuch für obere Klaffen. 4. Aufl. 3
	        
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