Full text: Geschichte des deutschen Volkes und Landes (Cursus 3, Abth. 2)

28 
Die religiös-kirchliche Keformbeivegung in Deutschland oder die 
deutsche Deformation^). 
§. 15. 
Anfänge der Reformation. Luther's erstes Auftreten. 
1) Mehr noch als im Staatlichen wurde zu Anfang des 
16. Jahrhunderts das Bedürfniß einer Umgestaltung und 
geistigen Erneuerung auf dem Gebiete des kirchlichen und 
religiösen Lebens gefühlt, und hier eine Reformation, wie 
man dies nannte, verlangt. 
2) Die Klagen in dieser Beziehung waren nicht neu; sie 
wurden seit dern 15. Jahrhundert viel und laut erhoben: über die 
Mißbräuche, die im Verlaufe der Zeit sich in die Kirche einge¬ 
schlichen hatten und alles wahre religiöse Leben durch bloßen 
Cereinoniendienst zu ersticken suchten; über die große Unwissenheit 
und geistige Verkommenheit vieler Mitglieder des geistlichen Stan¬ 
des; über die Entartung der Kirchenverfassung, wodurch das ge- 
sammte Kirchenregiment in die Hände des römischen Stuhles 
gekommen war, der seine Allgewalt zu immer gesteigerten Geld¬ 
forderungen unter allerlei Titeln, wie Annaten^), Zehnten von 
sammtlichen Kirchengütern, Ablaßverkauf, Kanzleigebühren u. a., 
geltend zu machen wußte u. s. w. 
3) Selbst drei Kirchenversammlungen, zu Pisa (1409), zu 
Costnitz <1414) und zu Basel (1431), hatten sich deßwegen für 
die Nothwendigkeit einer Reformation der Kirche an Haupt 
und Gliedern ausgesprochen, und hatten auch ernsthafte Ver¬ 
suche dazu gemacht, ohne indessen durchdringen zu können. Denn 
es gab eine Partei in der Kirche, die aus Mangel theils an rich¬ 
tiger Einsicht, theils an gutem Willen, da die bestehenden Mi߬ 
bräuche ihren persönlichen Interessen dienten, nicht bedachte, daß, 
während die göttlichen Wahrheiten des Christenthums 
ewig unveränderlich sind, doch die äußerlichen kirchlichen Formen 
nach der jedesmaligen Bildung und nach den Bedürfnissen der 
Menschen sich richten müssen. 
4) Inmitten der deutschen Nation wurde das Bedürfniß einer 
kirchlichen Reformation besonders lebhaft empfunden. Wiederholt 
hatten die Stände des Reichs auf Reichstagen Beschwerden 
über die bestehenden Mißbräuche und wider die römischen Geld¬ 
erpressungen erhoben, und deren Abstellung verlangt. Die her¬ 
vorragendsten Gelehrten der Nation, wie der Niederdeutsche Eras¬ 
mus von Rotterdam, der Oberdeutsche Johann Reuchlin 
von Pforzheim u. A. kämpften mit den Waffen der Wissenschaft 
gegen die herrschende mittelalterliche Scholastik und deren Formeln, 
und wiesen auf das Studium der heiligen Schrift, die man
	        
Waiting...

Note to user

Dear user,

In response to current developments in the web technology used by the Goobi viewer, the software no longer supports your browser.

Please use one of the following browsers to display this page correctly.

Thank you.