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III. Kunstbestrebungen und Kunstleistungen der Menschen.
B. Tonkunst.
29. Gesang und Musik.
Wenn der Mensch auf die Befriedigung seiner unabweisbaren
Lebensbedürfnisse zuerst bedacht sein muß, so lebt er doch nicht vom
Brod allein; denn zu seinem menschlichen Wohlsein sind Gemüths-
und Geisteserhebungen erforderlich; nicht bloß das Nützliche lernte
der Mensch schätzen, sondern auch das Schöne, welches wohl nicht
zu seiner Lebenserhaltung, aber wohl zu seiner Lebenserheiterung ein
Bedürfniß ist. Auf der niedrigsten menschlichen Stufe steht der
Mensch in Verfolgung des Nützlichen, aus einer höheren in Verfol¬
gung des Schönen.
Wie das Thierleben die Natur mit Zank und Kampf erfüllte
und so die Menschen in den blutigen Streit hineinzog, so erfüllte es
nichts desto weniger die Natur mit Gesang und Musik und zog eben¬
falls die Menschen in ihr Jubelleben hinein. Wie die traurige Er¬
regung der Menschen sich durch Weinen Ausdruck verschafft, so die
freudige Erregung augenblicklich durch Lachen und dauernd durch
Gesang; darum hat auch gewiß das erste Menschenpaar schon ge¬
sungen, gesungen in rohen Tönen ohne Gedanken, Geschmack und
Bewußtsein; der Gesang der Vögel diente dazu, den menschlichen
Gesang wohltönender zu machen, und so wurden die Thiere des
Menschen erste Lehrmeister im Gesänge, und in der Lehre von der
Schönheit des Tones, So ist denn die Vocalmusik entstanden als
ein natürlicher Ausdruck von Vorgängen in der menschlichen Seele;
sie war verschieden nach der Verschiedenheit dieser Erfindungen und
der Verschiedenheit der Töne, welche der Mensch aus der Natur ver¬
nahm ; ihre Geschichte läßt sich darum weniger verfolgen.
Anders ist es mit der Instrumentalmusik, sie ist weniger Natur
und mehr Kunst. So wie der Stock eine Verstärkung der Kraft der
schlagenden Hand gab, so das Rohr eine Verstärkung der singenden