Full text: Deutsches Lesebuch für die weibliche Jugend

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mit tief niederragendem Dache, und von der Tenne durchschnitten, an 
der zu beiden Seiten eine lange Reihe von Hornvieh, ostfriesischer Rasse 
an seinen Ketten klirrt; die große Küche, hell und sauber, mit gewaltigen 
Kamine, unter dem sich das ganze Hauspersonal bergen kann; das 
viele, zur Schau gestellte blanke Geschirr und die absichtlich an den 
Wänden der Fremdenstube aufgetürmten Flachsvorräte erinnern eben 
falls an Holland, dem sich überhaupt diese Provinz, was Wohlstand 
und Lebensweise betrifft, bedeutend nähert, obwohl Abgeschlossenheit und 
gänzlich auf den innern Verkehr beschränktes Wirken ihre Bevölkerun 
von all den sittlichen Einflüssen, denen handelnde Nationen nicht ent⸗ 
gehen können, so frei gehalten haben, wie kaum einen anderen Landstrich 
Wir haben schon früher von dem überaus friedlichen Eindruck 
eines münsterischen Gehöftes gesprochen. In den Sommermonaten, w 
das Vieh nicht im Stalle ist, vernimmst du keinen Laut, außer den 
Bellen des Hofhundes und, wenn du dicht an der offenen Hausthil 
herschreitest, dem leisen Zirpen der in den Mauernesseln aus- und ein 
schlüpfenden Küchlein, und dem gemessenen Pendelschwung der Uhn 
mit deren Gewichten ein paar junge Kätzchen spielen; — die im Garten 
jätenden Frauen sitzen so still gekauert, daß du sie nicht ahnst, wenn 
ein zufälliger Blick über den Hagen sie dir nicht verrät, und die schönen 
schwermütigen Volksballaden, an denen diese Gegend überreich ist, hörst 
du etwa nur auf einer nächtlichen Wanderung durch das Schnurren 
der Spinnräder, wenn die blöden Mädchen sich vor jedem Ohre ge 
sichert glauben. 
Diese Ruhe und Eintönigkeit, die aus dem Innern hervorgehen 
verbreiten sich auch über alle Lebensverhältnisse. Die Toten werdel 
mäßig betrauert, aber nie vergessen, und alten Leuten treten noch 
Thränen in die Augen, wenn sie von ihren verstorbenen Eltern sprechen 
— An den Eheschlüssen hat frühere Neigung nur selten teil; Verwandl 
und achtbare Freunde empfehlen ihre Lieblinge einander, und das Fül 
wort des Geachtetsten giebt in der Regel den Ausschlag. Trotz der 
vorläufigen Verhandlung ist jedoch selbst der Glänzendste hier seine⸗ 
Erfolges nicht sicher, da die Ehrbarkeit ein bestimmtes Eingehen auf 
die Anträge des Brautwerbers verbietet, und jetzt beginnt die Nufgabe 
des Freiers. Er tritt an einem Nachmittage in das Haus der r 
suchten und zwar jedesmal unter dem Vorwande, seine Pfeife aun 
zünden — die Hausfrau setzt ihm einen Stuhl und schürt schweigen 
die Glut auf, dann knüpft sie ein gleichgiltiges Gespräch an von 
Wetter, den Kornfrüchten u. s. w. und nimmt unterdessen eine Pfann⸗ 
vom Gesimse, die sie sorgfältig scheuert und über die Kohlen häng 
Jetzt ist der entscheidende Augenblick gekommen. Sieht der Freier bi 
Vorbereitungen zu einem Pfannenkuchen, so zieht er seine dicke, silbern⸗ 
Uhr hervor und behauptet, sich nicht länger aufhalten zu können,
	        
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