Full text: Die Geschichte des deutschen Volkes

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Zweites Buch. Zweiter Abschnitt. 
ich meinen Geist!" seine Seele dem Schöpfer zurück, im zwei und siebenzig- 
sten Jahre seines Lebens^ Da war große Bestürzung im ganzen Reiche, 
wie wenn die festen Säulen der Ordnung jetzt zusammenbrechen müßten; 
die Armen und Bedrückten wehklagten um ihn, daß sie in ihm ihren Vater 
verloren, und alle stillen Tugenden seines Wandels, seine Milde und Barm¬ 
herzigkeit zumal, kamen nun an den Tag. Die Leiche wurde kostbar balsa- 
mirt, im vollen Kaiserschmuck angethan, auf einen goldnen Stuhl aufrecht 
gesetzt und auf diesem hinabgesenkt in die Gruft der Liebfrauenkirche zu 
Aachen, welche er erbaut hatte. Dort saß nun Kaiser Karl, als wäre er 
noch lebendig, im golddurchwirkten Mantel, mit der Krone auf dem Haupte, 
goldne Schuhe an den Füßen, das Schwert und die Pilgertasche um die 
Lenden, Schild und Scepter zu seinen Seiten. Dann ward das Gewölbe 
mit Spezereien erfüllt und verschlossen. Sein Ruhm blieb auf Erden un¬ 
vergessen, und mit Recht haben ihn alle Völker „Karl den Großen" genannt. 
2. 
Der Mensch, der zur schwankenden Zeit auch schwankend gesinnt ist, 
Der vermehret das Nebel und breitet es weiter und weiter. 
G ö t h e. 
Voll guten Willens ergriff Karls des Großen Sohn, Ludwig, die 
Herrschaft. Aber mit dem guten Willen allein ist eines Fürsten Pflicht und 
Amt noch nicht erfüllt; Verstand muß er dazu haben, immer das Rechte 
zu erkennen, und Kraft, es durchzuführen. Grade diese beiden Eigen¬ 
schaften aber gingen dem Sohne Karls des Großen ab; und so ward Lud¬ 
wigs Milde zur Schwäche, und diese Schwäche dem Volk wie ihm selbst 
zum Verderben. 
Als er zu regieren anfing, erschrak er, wie ihm von allen Seiten das 
Nothgeschrei des Volkes zu Ohren scholl. Da kamen viele Klagen, wie 
untreu die Beamten bis jetzt gewaltet hätten. So wenig also hatte sogar 
ein gewaltiger Herrscher das Volk vor der Willkür der Großen schützen 
können; — wie viel weniger könnt' es ein Schwächling! Dennoch strengte 
Ludwig im Anfang all' seine Kräfte an; er schickte Männer, die er für 
rechtschaffen hielt, als Sendboten in alle Marken des Reichs, um den Un¬ 
terdrückten zu ihrem Recht zu helfen, und denen, die durch List oder Ge¬ 
walt ihre liegenden Güter und ihre Freiheit an den Adel oder an die 
Geistlichkeit verloren hatten, beide wiederzuschaffen; auch gab er den Ede¬ 
lingen und Freien der Sachsen ihre Erbgüter wieder, welche ihnen sein Va¬ 
ter genommen hatte. Ueberdies sicherte er die Grenzen des Reichs gegen 
die slavischen Völker und gegen die Basken, und zwang den Herzog 
von Benevent, aufs Neue zu huldigen und Zins zu geben. 
Ueber Italien herrschte damals Ludwigs Neffe, Bernhard, der Sohn 
Pipins, unter Oberhoheit des Frankenreichs, und zu Rom, nach dem Able¬ 
ben Leo's, der Papst Stephan IV. Dieser ließ, als er den Stuhl seiner 
Vorfahren bestieg, sein Volk dem Kaiser schwören, und kam im Jahr 816 
selber zu ihm nach Deutschland, um ihm zu huldigen. Da gewahrte er mit 
großen Freuden Ludwigs Frömmigkeit und Demuth, und beredete ihn, daß
	        
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