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Zweites Buch. Zweiter Abschnitt.
zum Schwert, sondern suchte den Zorn Gottes durch Buße und Gebet zu
versöhnen. Ja, er vermehrte noch die Verwirrung, indem er aus Liebe zu
seinem Sohn Karl, welchen ihm Judith im Jahre 823 geboren hatte, die
Theilung, welche er zwischen seinen drei Söhnen aus erster Ehe gemacht,
im Jahre 829 umstieß, um auch seinem Liebling Karl ein Reich zu schaffen.
Da ergrimmten die drei Brüder Lothar, Pipin und Ludwig um ihr Recht,
vergaßen, daß der, welcher sie drum kränken wollte, ihr Vater sei, und zo¬
gen als Feinde wider ihn aus; das Volk entsetzte sich über den Frevel,
aber die Großen frohlockten im Stillen. Und es geschah im Jahr 830 das
Unerhörte, daß das Heer den Kaiser plötzlich verließ, und der Vater in Ge¬
fangenschaft seiner drei Söhne kam. Diese verstießen ihre Stiefmutter, die
Kaiserin, in ein Kloster, und Lothar, der ruchloseste von ihnen, übergab sei¬
nen Vater den Geistlichen, welche ihn überreden sollten, dem Reiche zu ent¬
sagen und Mönch zu werden. Aber die Geistlichen gedachten, wie der Kaiser ihnen
immer ganz und gar ergeben gewesen war und es auch künftig sein werde;
drum bewegten sie die Herzen der zwei andern Brüder, Pipins und Lud¬
wigs, und das Mitleid des Volkes für den Kaiser, und also kam dieser
wieder auf den Thron. Da verbannte er den Lothar von seinem Antlitz
nach Italien und gönnte ihm wohl dieß Reich, doch nicht mehr den Kaiser¬
titel. Aber die Noch hatte ihn nicht klug gemacht, und die Liebe zu seinem
jüngsten Sohne Karl verführte ihn bald zu neuer Ungerechtigkeit gegen Pi¬
pin und Ludwig; er theilte ihre Reiche, um Karl allsstatten zu können.
Darüber vereinigten sich nun Pipin und Ludwig plötzlich wieder mit Lo¬
thar (833), lind der Papst, Gregor IV., heiligte den Bund. Bei Colmar
erwarteten die drei feindlichen Söhne ihren Vater, den Kaiser Ludwig;
dieser aber stand mit seinem Heer bei Worms; dorthin kam der Papst zu
ihm llnd beredete ihn, sich den Söhnen zu unterwerfen; zugleich wichen
alle seine Krieger treulos von ihm, bis auf wenige, welche noch Ehr' und
Gewissen hatten; zu diesen sprach er in seinem bittren Herzleid: „Warum
harret ihr alls bei mir aufgegebnem alten Mann? O geht zu den Glück¬
lichen, damit euch die Treue nicht verderbe!" Darauf ging er selbst zu
seinen Söhnen hinüber, und sie nahmen ihn wieder gefangen; das geschah
auf einem Feld im Elsaß, nicht weit von Thann, das heißt das „Lügen¬
feld" zum ewigen Andenken der Untreu. Darauf führte der ruchlose Lothar
seinen Vater nach Soissons und verschloß ihn in einem Kloster. Dort
drängten sich, auf Lothars Geheiß, viele Geistliche an den tiefgebeugten
Kaiser lind bestürmten bei Tag und Nacht sein schwaches Gewissen und
seinen schwachen Verstand so lange, bis daß er endlich zerknirscht nach sei¬
nes Sohnes Witten that. Im' Gewand eines Büßers schritt er in die
Kirche, und las dort, auf einem härenen Sack knieend, unter heißen Thrä-
nen ein Verzeichniß seiner Sünden vor allem Volke ab. Hierauf ward er
der Waffen entkleidet, und so glaubte Lothar, daß er auch zur
Herrschaft fortan unfähig sei, und verlangte, daß er sich das Haupt
scheren lasse und ein Mönch werde. Da flammte die Scham in
dem herabgewürdigten Kaiser noch einmal auf, und die Liebe zu sei¬
nem Sohne Karl, um dessen willen er dies Alles gelitten hatte, gab ihm
Kraft, sich des Ansinnens zu wehren. Auch fürchteten seine zwei andern
Söhne, Ludwig und Pipin, daß ihr Bruder Lothar, wenn auch dies Aeu-
ßerfte vollbracht sei, die Alleinherrschaft ergreifen möchte; denn sie kannten
sein treuloses Gemüth. Drum kamen tie jetzt zur Rettung ihres Vaters,
und das Volk, über Lothars Frevel empört, stand ihnen bei. So wurde