Full text: Für Ober-Tertia und Unter-Sekunda (Klassen II und I der Realschulen) (Prosaheft 4, [Schülerband])

I. W. Goethe, Campagne in Frankreich. 
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geregnet, von ausgetretenen Gräben überschwemmt, die Verbindung der 
Fußpfade überall unterbrochen. Vier ansehnliche, schöne, sauber gekleidete 
französische Soldaten wateten eine Zeitlang neben unseren Wagen her, 
durchaus nett und reinlich, und wußten so gut hin und her zu treten, 
daß ihr Fußwerk nur bis an die Knorren von der schmutzigen Wallfahrt 
zeugte', welche die guten Leute bestanden. 
Daß man unter solchen Umständen in Gräben, auf Wiesen, Feldern, 
und Angern tote Pferde genug erblickte, war natürliche Folge des Zu¬ 
standes; bald aber fand man sie auch abgedeckt, die fleischigen Teile 
sogar ausgeschnitten — trauriges Zeichen des allgemeinen Mangels! 
So zogen wir fort, jeden Augenblick in Gefahr, bei der geringsten 
eigenen Stockung selbst über Bord geworfen zu werden, unter welchen 
Umständen freilich die Sorgfalt unseres Husaren Liseur nicht genug zu 
rühmen und zu preisen war. Dieselbe betätigte sich denn auch zu 
Estain, wo wir gegen Mittag anlangten und in dem schönen, wohl¬ 
gebauten Städtchen durch Straßen und auf Plätzen ein sinneverwirrendes 
Gewimmel um und neben uns erblickten: die Masse wogte hin und her, 
und indem alles vorwärts drängte, ward jeder dem anderen hinderlich. 
Unvermutet ließ unser Führer die Wagen vor einem wohlgebauten 
Hause des Marktes halten; dort führte man uns in ein getäfeltes Zimmer 
auf gleicher Erde, wo im schwarzmarmornen Kamin behagliches Feuer 
brannte. In dem großen Spiegel darüber beschauten wir uns ungern; 
denn ich hatte noch immer nicht die Entschließung gefaßt, meine langen 
Haare kurz schneiden zu lassen, die jetzt wie ein verworrener Hanfrocken 
umherquollen; der Bart, strauchig, vermehrte das wilde Ansehen unserer 
Gegenwart. 
Nun aber konnten wir, aus den niedrigen Fenstern den ganzen 
Markt überschauend, unmittelbar das grenzenlose Getümmel beinahe mit 
Händen greifen. Aller Art Fußgänger, Uniformierte, Marode, Bürger¬ 
liche, Weiber und Kinder drängten und quetschten sich zwischen Fuhr¬ 
werk aller Gestalt; Rüst- und Leiterwagen, Ein- und Mehrspänner, 
weichend, anstoßend, hinderten sich rechts und links. Auch Hornvieh 
zog damit weg, wahrscheinlich geforderte, weggenommene Herden. 
Reiter sah man wenig; auffallend aber waren die eleganten Wagen der 
Emigrierten, vielfarbig lackiert, vergoldet und versilbert. Die größte 
Not entstand aber da, wo die den Markt füllende Menge in eine zwar 
gerade und wohlgebaute, doch verhältnismäßig viel zu enge Straße 
ihren Weg einschlagen sollte. Ich habe in meinem Leben nichts Ähn¬ 
liches gesehen; vergleichen aber ließ sich der Anblick mit einem erst über 
Wiesen und Anger ausgetretenen Strome, der sich nun wieder durch 
enge Brückenbogen durchdrängen und im beschränkten Bette weiter 
fließen soll.
	        
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