Full text: Quellenlesebuch (Heft 5. Erg.-H)

27. Kaiser Wilhelm I. im Greisenalter. 
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2. Der Kaiser und Bismarck. 
Seit 1877 hat Bismarck, soweit wir urteilen können, nie wieder ganz ernstlich 
um seine Entlassung nachgesucht. Er hat im August 1878, nach den Attentaten, 
seinem Herrn versprochen, ohne dessen Zustimmung niemals zurückzutreten, hat 
in den Mordversuchen mit tiefer Ergriffenheit „ein neues Band der Pflicht" für sick 
anerkannt und sich später so manches Mal auf dieses sein Gelöbnis berufen. Es ist 
erzählt worden, wie dann die innere Wendung Kaiser und Kanzler immer fester 
zusammenfügte und wie im Herbste 1879 der Abschluß mit Osterreich den doch wohl 
letzten harten Konflikt zwischen ihnen zur Ruhe brachte. Bis zu dieser letzten Krisis 
fehlt es in Bismarks zwanglosen Gesprächen, soweit wir solche bereits besitzen, an 
scharfen Äußerungen nicht und auch nachher noch bricht wohl dann und wann bei 
Bismarck ein Wort der Ungeduld, bei Wilhelm eine rasche Regung des Mißvergnügens 
hervor; es gab noch kleine Kanzlerkrisen, die indessen bedeutungslos gewesen sein 
müssen. Seit 1879 ist Bismarcks Stellung anscheinend doch ganz unerschüttert ge- 
blieben. Der Kaiser übt, wo wir einmal beobachten können, auch künftighin seine 
Aufsicht. Bismarck und Moltke sind gelegentlich nicht ganz einig: Bismarck kann 
den Plan des Nordostseekanals lange Jahre hindurch gegen Moltkes Widerspruch 
nicht durchsetzen, Moltke sordert (1881—82) zur Deckung der Ostgrenze eine Mit- 
Wirkung des auswärtigen Amtes, die Bismarck verweigert; wieder zeigt es sich da, 
daß bie verschiedenen Oberbehörben getrennte Kreise behielten unb bie oberste Einheit 
boch eben immer nur im Kaiser selber ruhte. Unb dessen Wille behauptete sich auch 
jenen beiden gegenüber in mancherlei Meinungsverschiedenheiten bis an das Ende. 
Ein Sachkenner versichert, daß z. B. Anfang der achtziger Jahre der Kaiser in einer 
wichtigen Frage der Landesverteidigung den Borschlag Moltkes umgestoßen habe, 
mit so überzeugendem Rechte, daß die beteiligten Offiziere den eigenen Irrtum 
auch innerlich völlig zugeben mußten. Und Bismarck erlebte immer wieder ähnlichen 
Einspruch. So scheint in erster Reihe der Kaiser die Errichtung einer päpstlichen 
Nuntiatur in Berlin grundsätzlich abgelehnt zu haben. Auch in Personenfragen griff 
er wohl gelegentlich ein, Schärfen des Kanzlers gegen hohe Beamte soll er gerügt 
haben. Und als Bismarck im Frühjahr 1880 im Zollvereinsstreite Hamburg etwas 
hart angefaßt hatte, zeigte ihm ber Kaiser, bei aller persönlichen Rücksicht unb poli- 
tischen Übereinstimmung, seine Mißbilligung bes unfreunblichen Verfahrens ganz 
klar unb forschte, ohne sich ablenken zu lassen, bem Ursprünge bes Fehlers mit einer 
gewissen Hartnäckigkeit nach; er ersuchte ben preußischen Finanzminister, an ben ihn 
Bismarck verwies, um seinen Bericht unb sein Urteil. Er wollte sich also, im Sinne 
von Mäßigung unb Ausgleich, zur Geltung bringen. Sollte Ähnliches nicht auch 
sonst geschehen sein? Vermutlich wirb sich, bei steigenber Kenntnis ber Einzelheiten, 
bie Mitwirkung bes alten «Herrn boch überall erheblich größer unb sester erweisen, 
als sie ber allgemeinen Anschauung heute wohl erscheint. Jnbessen, ber eigentlichen 
Hauptsache nach muß Bismarck in biesem Jahrzehnte bie Politik boch wohl beinahe 
selbstänbig geleitet haben. Ernste Gegensätze lagen unsers Wissens wirklich nirgend 
mehr vor, und der 80 jährige Kaiser gab seinem vielbewährten großen Minister im 
ganzen freien Raum. In ihre persönlichen Beziehungen gestatten uns gerade diese 
Jahre einen tiesern Einblick. Sie sind reich an zartsinnigen Aufmerksamkeiten und 
warmen Dankesworten des Monarchen. Neben den klangvollen öffentlichen Kund- 
gebungen stehen vertrauliche Briefe, die auch dieses und jenes Einzelne aus Wilhelms 
Erlebnissen berichten, von Familienereignissen, Jagd, Politik; wie glücklich blickt 1882 
der Urgroßvater auf die Reihe der drei Nachfolger, bie er — „ein mächtiger Gebanke!"
	        
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