Full text: Die weite Welt (Schulj. 7 u. 8)

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Stand hinauf. Das Meer sendet immer von neuem seine volle, 
breite Gewalt gegen die einzelnen Werften, um sie aus seiner 
Bahn wegzuschieben. Der Erdhügel, der eine Zeit lang zitternd 
widerstand, gibt nach; bei den unausgesetzten Angriffen bricht 
ein Stück nach dem andern ab und schiefst hinunter. Die Pfosten 
des Hauses, welche mit Vorsicht eben so tief in die Werften 
eingesenkt wurden, wie sie darüber hervorstehen, werden ent¬ 
bleist; das Meer fasst sie, rüttelt sie. Der erschreckte Bewohner 
des Hauses rettet erst seine besten Schafe hinauf auf den Boden, 
dann flieht er selbst nach. Und es war hohe Zeit. Denn schon 
stürzen die Mauern, und nur noch einzelne Ständer halten den 
schwankenden Dachboden, die letzte Zuflucht. Mit furchtbarem 
Siegerübermute schalten nun die Wogen im unteren Teile des 
Hauses; sie werfen Schränke, Kisten, Betten, Wiegen mit wildem 
Spiele durcheinander und reifsen endlich alles hinaus auf den 
Tummelplatz ihrer Kraft. Immer weniger werden die Stütz¬ 
punkte des Daches. Ängstlich lauscht das Ohr, ob nicht das 
Brausen des Sturmes abnehme, ängstlich pocht das Herz bei 
jeder Erschütterung; immer ängstlicher drängen sich die Un¬ 
glücklichen zusammen. In der Finsternis sieht keiner das entsetzte 
Antlitz des andern; im Donnergroll der tobenden Wogen ver¬ 
hallt das bange Gestöhne; aber jeder kann an seiner eigenen 
Qual die marternde Angst seiner Lieben ermessen. Der Mann 
presst das Weib, die Mutter ihre Kinder mit verzweiflungsvoller 
Todesgewissheit an sich; die Bretter unter ihren Füssen werden 
von der drängenden Flut gehoben, durch alle Fugen quillt das 
Wasser. Da kracht ein Balken. Ein furchtbarer Schreckruf er¬ 
tönt! Der Dachboden senkt sich nach einer Seite, ein neuer 
Flutenberg schäumt herauf, und im Sturmgeheul verhallt der 
letzte Todesschrei. Die triumphierenden Wogen schleudern sich 
einander Trümmer und Leichen zu. 
Dennoch liebt der Halligbewohner seine Heimat, liebt sie 
über alles, und der aus der Sturmflut Gerettete baut sich nirgends 
sonst wieder an als auf dem Flecke, wo er alles verlor, und wo 
er in kurzem wieder alles und sein Leben mit verlieren kann. 
Biernatzky. 
97. Das kleinste Vaterland. 
Es ist das kleinste Vaterland der grössten Liebe nicht zu klein: 
Je enger es dich rings umschliesst, je näher wird’s dem Herzen sein. 
Wilh. Müller. 
Dieses Dichterwort steht wie in Granit eingegraben in den 
Herzen unserer Nordseeinsulaner. Jasper ist als Schiffsjunge 
in ferne Weltgegenden gezogen; aber von Jahr zu Jahr trieb 
es ihn zurück nach jenem Häuflein Erde mitten im Meere, wo 
der sorgende Vater, die liebende Mutter weilten. Als er einstens
	        
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