Full text: Deutsches Lesebuch für Mittelschulen

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105. 
Sprüche und Sprichwörter. 
Wohlzuthun und mitzuteilen vergesset nicht; denn solche Opfer 
gefallen dem Herrn wohl. — Geben ist seliger als Nehmen. — Wer 
Gutes thut, hat frohen Mut. — Wer seiner Brüder Not vergißt, 
verdient nicht, daß er glücklich ist. — Einen fröhlichen Geber hat 
Gott lieb. — Wer sich des Armen erbarmt, der leiht dem Herrn. 
— Haft du viel, so gib reichlich; hast du wenig, so gib doch das 
Wenige mit treuem Herzen! — Laß die linke Hand nicht wissen, 
was die rechte thut! — Gedenke des Armen, wenn du einen fröh¬ 
lichen Tag hast! 
106. 
Die Macht des guten Beispiels. 
Geliert, welcher Professor in Leipzig war und so viele schöne 
Lieder und Fabeln gedichtet hat, ging eines Tages vor den Thoren 
der Stadt spazieren. Da hörte er unter Weinen und Schluchzen 
eine Frau rasch hinter sich Herkommen, blieb stehen und fragte die 
Frau, der die Not deutlich im Gesichte geschrieben stand, was ihr 
fehle. Ohne weiter auf seine Frage zu achten, sah sie ihn mit 
kaum halbem Blicke an und eilte vorüber. Um so mehr verdoppelte 
der menschenfreundliche Geliert seine Schritte und rief ihr mit ver¬ 
stärktem Tone nach: „So höret doch!" Die Frau blieb stehen. 
„Was ist Euch?" — „Ach, lieber Gott," antwortete sie unter einem 
Strom von Thränen, „dort hinten in der Straße, in dem kleinen 
Häuschen mit dem Schindeldach, liegen meine vier armen Kinder und 
mein Mann krank. Ich habe seit fünf Wochen nichts verdienen 
können; wir sind aber dem Kaufmann N. 30 Thaler schuldig, und 
der will nicht länger warten. Eben jetzt komme ich von ihm her; 
ich wollte ihn um Nachsicht bitten, da hat er mir aber gedroht, daß 
wir heute aus dem Hause geworfen werden sollten, wenn wir nicht 
ans der Stelle bezahlten. Ich arme Frau, was fang' ich an mit 
meinem kranken Manne und meinen armen Kindern? Wenn wir 
doch alle schon unter der Erde lägen!" 
Gellert beruhigte sie und versprach Hilfe, nahm sie mit sich in 
seine Wohnung, schloß das Schreibpult auf, suchte und brachte glück¬ 
lich 30 Thaler zusammen, die er der armen Frau gab. „Nun," 
sagte er, „geht hin und bezahlt, aber nicht eher als in einer 
Stunde." Die Frau trocknete ihre Thränen und gab durch Nicken 
zu erkennen, daß sie seinen Willen befolgen wolle. 
Indes machte sich Gellert auf und ging zu dem reichen, ihm 
wohlbekannten Kaufmann, den er eben mit dem Zählen einer großen 
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