Object: Deutsches Lesebuch für kaufmännische Fortbildungsschulen und verwandte Anstalten

169. Die sibirische Überlandbahn. 
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Die sibirische Bahn hat die Kolonisierung des mächtigen Ländergebietes 
in ungeahnter Weise beschleunigt und ihr zahllose Kräfte zur Nutzbarmachung 
des Bodens zugeführt. Diese wird freilich in einem vollen Drittel des Landes, 
in der Polargegend, durch die furchtbare Kälte jener Landstriche zur Un¬ 
möglichkeit. Dagegen erscheinen die von großen Strömen durchzogenen 
Steppen und Waldgebiete des westlichen und mittleren Sibirien weit günstiger 
gestellt; sie sind reich an schwarzer Erde, daher für den Ackerbau in jeder Be¬ 
ziehung geeignet. In diese Gegend, die Kornkammer des Landes, lockt die 
sibirische Bahn Ansiedler bäuerlichen Berufes. Auf bergmännische und indu¬ 
strielle Bevölkerung wirkt ebenso anziehend das mineralreiche Altaigebirge, 
ein Hochland zehnmal so groß als die Schweiz. Stellt Westsibirien eine 
Ebene dar, die sich nur wenig über den Meeresspiegel erhebt und vor unend¬ 
lich langer Zeit selbst Meeresboden gewesen sein muß, so wird der östliche 
Teil Sibiriens durch Gebirge von bedeutender Höhe und Ausdehnung ge¬ 
kennzeichnet, die alle reich an Mineralien sind. Wieder anders gestaltet ist 
das Amurgebiet. Es ist gleichsam eine einzige große Hochfläche, die von 
Westen her nach dem Großen Ozean abfällt. 
Die Eisenbahn bringt mit ihrer langen Reihe von Wagen Leute aller 
Art ins Land. Durchreisende, die vom Westen Europas oder von Amerika, 
Japan und China kommen, begegnen sich mit russischen Staatsmännern, hohe 
und niedere Verwaltungsbeamte mit Unternehmern, die überraschende Pläne 
ausführen wollen, Kaufleute, die für ihre Waren ein neues Absatzgebiet zu 
finden hoffen, mit Offizieren und Mannschaften, die neue Quartiere in einer 
Entfernung von Hunderten von Meilen beziehen, Sträflinge, denen der Kopf 
halb geschoren ist und die, in ihr trauriges Schicksal ergeben, hinter den 
vergitterten Fenstern ihres Wagens sitzen, mit Auswanderern, die, ihr Bündel 
Habseligkeiten neben sich, mit Frau und Kindern von besseren Tagen träumen, 
als ihnen in der alten Heimat beschieden waren. Früher war der Ruf: 
„Nach Sibirien!" die schlimmste Drohung und Strafe, die man sich denken 
konnte. Jetzt ist er zu einem Hoffnungsschimmer für alle diejenigen geworden, 
die mit ihrem Schicksal unzufrieden sind und sich jenseit des Ural ein neues 
Leben zimmern wollen. Es ist ja amtlich schon zugegeben, daß Sibirien 
seiner bisherigen Bestimmung als Verschickungsort für Verbrecher nach und 
nach entzogen werden soll, die mehr und mehr nach der Insel Sachalin zu 
schaffen seien. So hat denn der Bau der Schienenstrecke schon in den An¬ 
sängen eine mächtige Bewegung vom Westen nach dem Osten veranlaßt, die 
von 1893—1896 und wieder von 1898—1900 mächtig anschwoll, so daß in 
der Zeit von 1882—1901 im ganzen anderthalb Millionen Menschen nach 
Sibirien ausgewandert sind. 
Die Ausfuhr von Getreide wie von Erzeugnissen der Viehzucht wird 
durch den Betrieb der sibirischen Bahn wesentlich erleichtert werden. Noch 
bedeutsamer erscheint der Goldreichtum, der sich in allen Teilen des Landes 
findet und zu dessen besserer Erschließung die Bahn das Ihre beiträgt. Das¬ 
selbe gilt von Eisen sowie von der Ausnutzung der Steinkohlenlager. Große 
Hoffnungen setzt man ferner in Rußland darauf, daß der Tee, von dem der 
größte Teil bisher auf dem Seeweg nach Europa ausgeführt wurde, von 
nun an auf dem kürzeren Schienenwege dorthin gelangen müsse, da die zarten 
Blätter durch die Länge der Reise an Geschmack und Duft wesentlich leiden.
	        
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