202 Karl Lamprecht.
der Reformation, insofern er lutherisch und damit noch halb gebunden
ist, und bei dem Geiste des Mittelalters, vornehmlich der mittelalterlichen,
katholischen Kirche. Das ist das Geheimnis des Umfallens der Romantiker
in klerikalisierende katholische und protestantische Richtungen, dies das
Geheimnis auch so vieler in besonderem Sinne moderner Geister der
Gegenwart, die gerade Allermodernstes mit Archaischem verbinden.
Ein allgemeiner Historismus durchzieht infolgedessen namentlich das
voll ausgesprochene, subjektivistische Zeitalter, von der Repristinativn des
hellenischen Altertums durch den Klassizismus in der zweiten Hälfte des
18. Jahrhunderts über die Romantik bis hin zu dem kosmopolitischen
Archaismus unserer Tage, indem tausend Kulturen und Weltanschau-
ungen der Vergangenheit in Bruchstücken zusammenfließen: und ge-
tragen von diesem Bedürfnisse der Stützung auf seelisch-geschichtliche
Gebundenheit, erscheinen die Jahrhunderte des Subjektivismus zugleich
als die des historischen Denkens und Wissens.
Kaiser Wilhelm II. ist Idealist: eben in der snbjektiv-distanzierenden
und in hohem Grade pathetischen Auffassung der Welt, des Makro- wie
des Mikrokosmos, besteht das Innerste seiner Persönlichkeit. Sollte er
da der Stützung seiner Natur durch geschichtlich gegebene Gebundenheiten
ferngeblieben sein? Keineswegs: eben in dem Bedürfnis historisch-
pathetischer Fundamentiernng hat er die Grundzüge des Inhaltes seines
Idealismus entwickelt: und nur der wird sich dem Verständnis dieser
merkwürdigen Persönlichkeit nähern, der ihr konkretes Empfinden,
Denken und Wollen von dieser Seite her betrachtet.
In ihrer historischen Fundamentierung aber ist die Persönlichkeit
des Kaisers vor allem hohenzollerisch: nichts geht ihm über die hohen
Traditionen seines Hauses und seines Geschlechtes. Man weiß, wie er
die Großen unter seinen Ahnen verehrt; aber auch die Gesamtreihe ist
ihm mehr als nur lieb und teuer. Für die jüngsten Vorfahren gar und
vornehmlich wieder für Kaiser Wilhelm den Alten erheben sich seine
Empfindungen geradezu in den Bereich des Ahnenkultes; er hat das
Palais Wilhelms I. unter den Linden eine „geweihte Stätte" genannt;
wir hören ihn von dem „geweihten Fuße" des Kaisers sprechen, uud im
Jahre 1896 ist von dem Kaiser als einer „uns geradezu heilig gewordenen
Persönlichkeit" die Rede: „Wenn der hohe Herr im Mittelalter gelebt
hätte, er wäre heilig gesprochen, und Pilgerzüge aus allen Ländern
wären hingezogen, um an seinen Gebeinen Gebete zu verrichten."
In einem so ausgeprägten Familiensinne, in dieser Dankbarkeit,
in dieser Verehrung gegenüber den Ahnen, in dieser besonderen, gleich-
sam natürlichen Frömmigkeit vor allem wurzelt des Kaisers Herz. Und
von diesen Empfindungen wird er weit aus unseren Zeiten hinaus- und
hinweggetragen in die Urzeiten aller geschichtlichen Menschheit — in
die Zeiten, in denen die natürlichen Zusammenhänge der Familie und
des Geschlechtes noch den geschichtlichen Verlauf beherrschten —: inner¬