Full text: Geschichte des Alterthums für Mittelschulen und zum Selbstunterricht ([Theil] 1)

212 Das heilige römische Reich deutscher Nation. 
kinder Zauberei trieben. So wurde ihnen der erste Kreuzzug verderblich, 
weil eine allgemeine Aufregung immer Veranlassung gibt, daß sich der Haß 
des Volkes entladet. Ebenso gefährlich wurden ihnen pestartige Seuchen, 
wenn sie von denselben verschont blieben; man behauptete, sie vergiften 
die Brunnen, um die Christen auszurotten. Schlimmer aber noch als den 
Juden erging es solchen, welche von dem Glauben der Kirche abfielen; 
diese hießen Katharer, Ketzer, und es gab immer eine große Anzahl. Man 
legte es nicht als Zrrthum oder Schwache aus, wenn ein Mensch der Kirche 
untreu wurde, sondern es galt als boshafte Verstocktheit, als Eingebung 
des Teufels selbst, der solche Werkzeuge brauche, um noch mehr Seelen 
in das Verderben zu stürzen. Darum schaffte man überwiesene Ketzer 
aus der Welt, und die Gesetze aller christlichen Staaten verfuhren gegen 
sie ärger als gegen Räuber und Mörder, weil jene nur Gut und Leben 
rauben, sie aber die Seelen auf ewig verderben wollen. Wer dem¬ 
nach von der Geistlichkeit der Ketzerei überführt war, den ergriff die 
weltliche Obrigkeit und überlieferte ihn dem Tode. Die gewöhnliche 
Strafe war der Feuertod; man wollte so die letzte Spur des Ungläu¬ 
bigen vertilgen und ihm zugleich einen Vorgeschmack des Höllenfeuers 
geben. Vielfach stellt man es so dar, als ob die Ketzer des Mittel¬ 
alters harmlose Leute gewesen seien, die gerne in Ruhe und Stille nach 
ihrer Ueberzeugung gelebt hätten, aber meistens die Opfer des spüren¬ 
den Glaubenshasses geworden wären. Die Geschichte beweist das Ge- 
gentheil; fast alle Ketzereien verdeckten mit dem religiösen Gewände 
Laster und unreine Thaten oder stempelten solche gar zu guten Werken, 
selbst zu religiösen Uebungen. Ebenso wenig ist es wahr, daß sie nur 
Frieden für sich verlangten; sie besaßen im Gegentheile durchgängig 
einen großen und thätigen Eifer neue Anhänger zu werben, und ver¬ 
folgten die Kirche mit einem Hasse, der nur größerer Macht bedurft 
hätte, um eine allgemeine Verfolgung in'ö Werk zu setzen. Die Kirche 
durfte nicht Zusehen, wenn ihr einzelne Glieder entfremdet wurden, son¬ 
dern mußte mit ihren Mitteln dagegen einschreiten, sonst hätte sie ihre 
erste Pflicht nicht erfüllt, und wenn die Kirche den Abgefallenen nicht be¬ 
kehrte, so ergriff diesen der Staat und strafte ihn nach seinen Gesetzen; denn 
die damaligen Staaten waren reine katholische Vereine, auf der kirchli¬ 
chen Grundlage ruhte ihre ganze Eristenz, darum duldeten sie niemanden, 
der den Glauben für unwahr, die kirchliche Ordnung für unchristlich, 
und das für unheilig hielt, was allen andern heilig war. Daß die 
Gesetze mit dem Tode straften, war eine Folge der damaligen Staats¬ 
einrichtungen überhaupt, welche das Nebel, das dem Staate angethan 
wurde, durch Beseitigung des Urhebers wegschafften. 
Im Anfänge des 13. Jahrhunderts hatte sich verschiedenartige 
Ketzerei aus Asien her über das Bulgarenland, über Deutschland, Jta-
	        
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